Reis gegen Fingerabdruck
Digitalwahn und Hunger in Indien
Auf dem Weg zum Massenüberwachungsstaat?
Nach Ansicht von Pahwa entsteht in Indien derzeit ein "Massenüberwachungsstaat". Aadhaar sei eine große Bedrohung sowohl individueller Freiheiten als auch der nationalen Sicherheit. Über die bevorstehenden Verhandlungen vor den Richtern des Obersten Gerichtshofs sagt er: "Ihre Entscheidung wird wohl eine der wichtigsten in der Geschichte des unabhängigen Indien sein."
Das hat nicht nur mit Fragen des Datenschutzes zu tun, sondern auch mit den Folgen der Verknüpfung von Aadhaar etwa mit dem Rentensystem - und eben mit dem System zur Ausgabe subventionierter Grundnahrungsmittel.
"Es gibt Leute, die ihre Essensrationen nicht mehr kaufen konnten, seit das biometrische System eingeführt wurde", erzählt Drèze, der zur Zeit Gastprofessor in Ranchi, der Hauptstadt von Jharkhand, ist und der Erhebungen in den Dörfern des Staates macht. Es habe auch Hungertode wegen Aadhaar-Problemen gegeben. Aktivisten haben mindestens vier solche Fälle im vergangenen halben Jahr dokumentiert; die Behörden bestreiten allerdings, dass die Opfer an Hunger gestorben seien.
Es treffe die Schwächsten, sagt Drèze - Alte mit abgenutzten Fingerkuppen; alleinlebende Witwen, die mit dem System nicht klarkommen; Arme, die sich eine Fahrt in die Stadt nicht leisten können, um ihre Lebensmittelkarten mit Aadhaar-Nummern verknüpfen zu lassen. "Also genau die, denen das System helfen soll."
In Nagri, einer Ansammlung von Dörfern nahe Ranchi, wird derzeit eine Änderung beim PDS getestet: Statt, dass die Bedürftigen den Reis zum eher symbolischen Preis von einer Rupie pro Kilo kaufen können, wird ihnen die Subvention monatlich überwiesen - sie bekommen also 31,60 Rupien pro Kilo Reis überwiesen und kaufen diesen dann für 32,60 Rupien das Kilo. "Ein absoluter Alptraum", meint Drèze.
Die Menschen müssen nun kilometerweit - häufig zu Fuß - zur Bank gehen und dort in Erfahrung bringen, ob das Geld angekommen ist. Oft ist das nicht der Fall oder sie kommen wegen der langen Schlangen nicht dran, so dass sie am nächsten Tag wiederkommen müssen. So geht den vielen hier lebenden Tagelöhnern dringend benötigter Lohn flöten. Ist das Geld da, müssen sie sich biometrisch ausweisen und dann in der Ausgabestelle das Prozedere wiederholen.
Vor dem Laden von Jolen Minz erzählt eine wartende Kundin, sie habe in den vier Monaten seit Beginn des Überweisungs-Experiments erst zweimal das monatliche Geld bekommen. Eine andere Frau: erst ein Mal. Eine dritte berichtet, sie bekomme zwar Geld, aber jeden Monat weniger. Dies sind keine seltenen Geschichten hier. Geld könnte auf dem Konto eines verstorbenen Ehemannes oder eines Betrügers gelandet sein - genau weiß es niemand. Ebenso wenig, bei wem man sich beschweren kann.
Im nahegelegenen Dorf Upardaha sitzt der dürre, 62-jährige Soma Oraon im Schatten vor seinem Haus. Er kann nicht mehr richtig laufen, seit er vor sechs Jahren von einem Mofa-Fahrer am linken Bein erfasst wurde. Das stundenlange Anstehen bei der Bank macht ihm zu schaffen, und dann muss er im Erfolgsfall auch noch einen 35-Kilo-Sack Reis von der Ausgabestelle nach Hause schleppen. Sollte er seinen Reis zwei Monate in Folge nicht kaufen, könnte ihm den Vorschriften zufolge die Lebensmittelkarte abgenommen werden.
Als Mittel zur Korruptionsbekämpfung untauglich
Erklärtes Ziel bei der Verknüpfung der Ausgabe subventionierter Lebensmittel mit Aadhaar sei es gewesen, die Korruption zu bekämpfen, erklärt Drèze. Diese habe es aber immer hauptsächlich bei den Händlern in den Ausgabestellen gegeben - daran ändere es nichts, dass sich nun die Empfänger biometrisch ausweisen müssen.
"Letztlich ist die Korruption nicht zurückgegangen, und Unannehmlichkeiten und Ausschlüsse haben zugenommen", sagt der Ökonom. Selbst in der Hauptstadt Neu Delhi gebe es viele Probleme mit dem System. "Wenn man es schon in Delhi nicht hinkriegt, warum geht man dann in eine Gegend wie Jharkhand, die am wenigsten darauf vorbereitet ist?", fragt er.
Die Regierung ignoriere die Probleme, die er und seine Forscher immer wieder dokumentierten, meint Drèze. Und sie interessiere sich für die betroffenen, armen Menschen nur dann, wenn gerade Wahlen anstünden. Als Antwort auf eine von ihm mit organisierte Demonstration der Bewohner von Nagri Ende Februar habe es nur leere Versprechen gegeben.
Dass Aadhaar trotz aller Probleme weiter ausgebaut und vorangetrieben wird, liegt für Drèze zum einen an blindem Glauben, das System könne Korruption beseitigen sowie Kosten einsparen. Zum anderen gebe es kommerzielle Interessen - etwa der Software- und Sicherheitsindustrien. "Außerdem: Wenn Aadhaar mit allem verknüpft wird, schafft das riesige Gelegenheiten, Daten auszuwerten." (dpa/ad)