Prof. Krcmar warnt
Droht Europa eine digitale Kolonialisierung?
Es ist noch nicht lange her, da waren die SMAC-Technologien in aller Munde. Das Akronym steht für Social, Mobile, AnalyticsAnalytics und CloudCloud-Technologien. Laut Helmut KrcmarHelmut Krcmar, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik an der TU München, hat sich die Erde inzwischen weitergedreht. Auf den IT-Strategietagen in Hamburg sprach er über das DARQ-Quartett - gemeint waren Distributed Ledger Technology und BlockchainBlockchain, Artificial Intelligence und Neuronale Netze, Extended Realities (Virtual und Augmented RealityAugmented Reality) und Quantencomputer. Profil von Helmut Krcmar im CIO-Netzwerk Alles zu Analytics auf CIO.de Alles zu Augmented Reality auf CIO.de Alles zu Blockchain auf CIO.de Alles zu Cloud Computing auf CIO.de
Krcmar machte auch deutlich, dass der Blick auf neue Technologien nicht mehr weit genug reiche. Im Jahr 2020 gelte es, immer auch die Frage nach dem "Wozu" zu stellen. "Purpose" gewinne bei Kunden, Mitarbeitern und auch bei Finanzinvestoren zunehmend an Bedeutung. Der Wissenschaftler verwies in diesem Zusammenhang auf die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Sie gäben IT-Managern Orientierung, welchem Zweck die Entwicklung neuer Technologien dienen könne.
Nachhaltige digitale Plattform-Ökosysteme
In seinem Vortrag sprach Krcmar auch die zunehmend wichtigen Plattformökonomien an. Technisch stehe die Enterprise Architecture des Plattformbetreibers in Mittelpunkt, in der die Funktionalität über Komponenten, Services und Netzwerk bereitgestellt werde. Hinzu komme das Ökosystem, in dem Drittanbieter Anwendungen entwickelten. Das Problem liege darin, einen nachhaltigen Modus Operandi zu definieren. Es gelte zu klären, wo und was genau die Kopplungsschicht zwischen beiden Teilen darstelle und wie die Kontrolle über den Datenaustausch zu bewerkstelligen sei.
Als nachhaltige Lösung schlug Krcmar eine "Dynamische Plattform-Governance als Co-Evolution" vor. Ziel sei es, Mehrwerte für alle Beteiligten - Nutzer, Produzenten und Plattformbetreiber - zu generieren. Dabei müssten folgende Aspekte bedacht werden:
Dezentralisierung: Autonomie für Drittentwickler und größtmögliche Dezentralisierung durch Open-Source-Plattformen (Beispiel: Cloud Foundry);
Balance aus Offenheit und Kontrolle: offene Schnittstellen in Kombination mit Qualitätskontrolle der Anwendungen (Beispiel: Apple);
Ressourcen teilen: nutzbare Plattformfunktionalität einschließlich Dokumentation und offene Lernplattformen (Beispiel: OpenSAP);
Preisgestaltung: transaktionsbasiert oder Flatrate? Subvention einer Seite? (Beispiel: Bing - bezahlt Konsumenten für die Nutzung).
Am Ende gehe es darum, einen stetigen Wert-, Daten- und Feedback-Austausch zu erzeugen. Wichtig dabei sei, dass alle Beteiligten "gönnen könnten" und keiner der Akteure die anderen benachteilige.
Die Plattformschere zwischen Europa, USA und China
Von den 100 wertvollsten Plattformen der Welt kommen laut Krcmar 68 Prozent aus den USA und 27 Prozent aus dem asiatisch-pazifischen Raum. Europa könne lediglich vier Prozent für sich verbuchen. Dadurch bestehe das Risiko einer "digitalen Kolonialisierung" - zumindest, wenn die Marktführer ihre Macht missbrauchten. Als Beispiel nannte Krcmar GoogleGoogle: Die Suchmaschine bewerbe eigene Produkte prominenter als vergleichbare Angebote der Konkurrenz, wodurch Kunden letztere oft nicht zu sehen bekämen. Alles zu Google auf CIO.de
Hier gelte es für Unternehmen, sich zu entscheiden, inwiefern sie sich in Abhängigkeiten begeben wollen. Das Extrem ist dem Informatikprofessor zufolge die digitale Fremdbestimmung, bei der keine eigene technologische Kompetenz mehr vorhanden ist. Das andere Extrem ist die digitale Autarkie, bei der alle Schlüsseltechnologien selbst produziert werden, auch wenn sie weniger leistungsfähig sind. Zwischen diesen beiden Polen müssten sich Unternehmen einordnen, um ihre digitale Souveränität zu finden. Sie müssten selbstbestimmt zwischen den Alternativen wählen können.
Der Rat des Forschers an die CIOs lautet hier, sich möglichst viele Wahloptionen offen zu halten.
Der rechtliche Kontext für die Plattformregulierung
Die Plattformökosysteme stellen Krcmar zufolge auch für das Wettbewerbsrecht eine Herausforderung dar. Es sei nicht klar, wie sich globale verschränkte Ökosysteme regulieren ließen. Es gäbe keine klare Marktabgrenzung mehr, daher werde es für die Behörden schwieriger, Fehlentwicklungen zu bekämpfen. Gleichzeitig lieferten nur wenige Firmen hochskalierende Dienste für alle Akteure in einem Ökosystem.
Akteure im Markt sollten sich daher Folgendes überlegen:
Sie sollten nach dem Dual-Sourcing-Modell ihren Bedarf durch zwei voneinander unabhängige Lieferanten/Firmen befriedigen.
Außerdem sollten sie semantische Interoperabilität und offene Standards einfordern, so dass Informationen ausgetauscht werden könnten.
Mit regulatorischen Vorgaben wie DSGVODSGVO, PSD2 und dem geplanten Gesetz über digitale Dienstleistungen der EU-Kommission sind laut Krcmar bereits Ansätze für eine Plattformregulierung angestoßen worden. Allerdings schaffe beispielsweise die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) nicht nur mehr Schutz, sondern auch neue Informationssilos, wodurch der Wert der Datennutzung verringert werde. Alles zu DSGVO auf CIO.de
Darüber hinaus gibt es laut Krcmar weitere Ideen, die in diesem Zusammenhang zu erörtern seien. Die Plattformen könnten aufgelöst werden, was zwar den Wettbewerb intensivieren, aber die Netzwerkeffekte verringern würde. Um die Interessen aller Beteiligten in Einklang zu bringen, böten sich eventuell Blockchain- und Smart-Contract-Konzepte an.
Wiedergewinnung der Kontrolle über kritische Informationsinfrastruktur
Zum Abschluss wandte sich der Hochschullehrer kritischen Infrastrukturen (KRITIS) zu und sprach über eine neue Ausprägung in diesem Bereich: Sprachassistenten wie Siri, Alexa oder Cortana, die Krcmar unter dem Begriff "Life Control Interfaces (LCI)" zusammenfasst. Deren Bedeutung für die Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt wird nach Meinung des Forschers im Kontext von Smart HomeSmart Home, autonomen Fahrzeugen, dem Internet of ThingsInternet of Things (IoT) und Smart Factories immer systemrelevanter für Wirtschaft und Gesellschaft werden. Diese LCI werden jedoch von amerikanischen Plattformbetreibern kontrolliert, so dass europäische Firmen in eine strategische Abhängigkeit geraten könnten: In diesem Fall wären LCI erfolgsentscheidend, aber vollständig unter der Kontrolle anderer Unternehmen. Alles zu Internet of Things auf CIO.de Alles zu Smart Home auf CIO.de
Um das zu verhindern, sprach Krcmar von einem Memorandum, das er mit unterzeichnet habe. Er fordere ein offenes, gemeinschaftliches und unabhängiges LCI für Europa. Dazu müssten geeignete Anforderungen geschaffen werden. Beispielsweise müsse die Zusammenarbeit zwischen Wettbewerbern branchenübergreifend zugelassen sowie ein fairer und kostengünstiger Zugang zur Technologie für alle Unternehmen ermöglicht werden.
Dadurch ließen sich Abhängigkeiten von Monopolisten und auch die eigenen Angriffsflächen verringern. Kosten ließen sich senken und integrierte Services besser entwickeln. Zudem würde das LCI dem europäischen DatenschutzDatenschutz entsprechen. Vor allem jedoch würde die Zahl europäischer Wettbewerber von null auf eins steigen. Alles zu Datenschutz auf CIO.de
Der Kontext ist wichtig
Zum Abschluss rief Krcmar die Anwesenden dazu auf, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. In den Unternehmen würden im Zuge der DigitalisierungDigitalisierung mithilfe von Technologie "schöne Schlösser" gebaut, über die durchaus geredet werden sollte. Wenn der Rest der Welt jedoch einem digitalen dystopischen Ödland gleiche, hätten die Anstrengungen keinen Wert. Die CIOs als Experten für erfolgreiche und nachhaltige Digitalisierung sollten sich in die Gestaltung der Gesellschaft einbringen, um ein solches Ödland zu verhindern. Es sei ihre Aufgabe, Technologie einen Zweck zu geben. Alles zu Digitalisierung auf CIO.de