Lieferketten bei Altana Pharma
Jetzt stimmt das Timing
Wenn aggressive Magensäfte in die falsche Richtung fließen, sprechen Mediziner von der Reflux-Krankheit. Das Medikament Pantozol soll das Risiko von Entzündungen der Speiseröhre mindern, indem es die Säureproduktion hemmt. 1999 erschien es auf den Markt, und schon kamen die Produktionsstätten Oranienburg und Singen mit den Bestellungen nicht mehr hinterher. Nicht einmal drei von vier Bestellungen lieferte Altana pünktlich und vollständig. Im Konzern lief der logistische Strom ungesteuert. Ein Reflux drohte, mit Gefahr für Geschäftsbilanzen und Rendite.
Den Therapieansatz brachte Pharma-CFO Andreas Görwitz, der vor fünfeinhalb Jahren zu Altana kam, vom Pharmakonkurrenten Boehringer mit: Bis Ende der 90er-Jahre war Görwitz Finanzchef einer Boehringer-Tochter und verantwortete dort die Materialwirtschaft. "Damals musste jeder Pharmaproduzent noch in jedem Land eine selbstständige Produktionsstätte halten", erläutert Görwitz, "die nationalen Gesetzgebungen haben sich mit der EU in den letzten Jahren jedoch geändert." Bei Boehringer fand der gelernte Betriebswirt ein Konzept, in dem er Produktionsstätten, Forschung und Entwicklung sowie Vertriebspartner gleichermaßen mit berücksichtigte. Er riss sämtliche Standortmauern nieder - ein Erfolgsrezept.
Drei-Punkte-Plan aus dem Hause Boehringer
Görwitz stellte einen Drei-Punkte-Plan auf. Er - definierte 15 Key Performance Indicators, an denen er sich permanent orientiert, - baute eine zentrale Organisationsstruktur und setzte einen global verantwortlichen Prozessmanager ein, - wählte eine neue Technik aus, mit der er definierte Prozesslogiken etwa von SAPSAP umgeht. Alles zu SAP auf CIO.de
"You manage only what you measure gehört - wie bei vielen CFOs - auch bei Görwitz zum Vortrags-Mantra. 15 KPIs für die Bereiche FinanzenFinanzen, Qualität, Effizienz und Mitarbeiter hat Görwitz definiert. Die ständige Überprüfung der Qualität der Produkte, der bereits erwähnte Customer Service Level und die Cost of Goods sind für ihn die drei wichtigsten Anforderungen: - In einen internen Qualitäts-Index fließen Kriterien wie Mängel in der Herstellung oder Reklamationen durch Kunden und Vertriebspartner mit ein. Görwitz: "Seit Start der KPIs haben wir die Mängel halbiert." - Auch der Customer Service Level ist im Aufwind: Von anfänglich 73 Prozent ist er inzwischen auf 97 Prozent gestiegen. Lieferengpässe wie noch im Jahr 1999 sind nun - so jedenfalls die Beteuerung des CFOs - weitaus unwahrscheinlicher. - Der dritte für ihn besonders wichtige KPIKPI sind die Cost of Goods. Hier betrachtet der Finanzchef, wie hoch die Kosten für die Produkte im Verhältnis zum Umsatz sind. Machten die Kosten vor fünf Jahren noch 32 Prozent des Umsatzes aus, sind es heute nur noch 24 Prozent - allein durch neue Struktur, Technik und eine ständige Überwachung der Prozesse. Alles zu KPI auf CIO.de Top-Firmen der Branche Finanzen
Der CFO von Altana Pharma geißelte bei Altana Pharma das "Silo-Denken" der Produktionsleiter und auch anderer Fachbereiche im Konzern, die zu sehr in ihren vier Wänden orientiert waren. Und schaffte es ab. Obwohl er zugeben muss: "Veränderung fällt vielen schwer", so Görwitz, der trotz des Umdenkens und der Umstrukturierung niemanden entlassen musste.
Ein "Global Process Manager (GPM)" hat nun das Sagen über die Logistikprozesse auf allen Kontinenten. Das mit einem Umsatz von zweieinhalb Milliarden Euro erfolgreichste Medikament in der Altana-Pharma-Produktpalette Pantozol etwa hat einen aufwändigen Herstellungsprozess. In 18 Stufen produziert Altana das Magen-Darm-Präparat. "Der SCM-Manager bestimmt die Geschwindigkeit in der Kette", so Görwitz, der nur in der Anfangszeit die gesamte Kette auf seinen Bildschirm im Konstanzer Büro holte. "Das ist nun nicht mehr nötig", so Görwitz, der eng mit der IT zusammenarbeitet und sich als Designer von Prozessen sieht, nun aber die Verantwortung an den GPM abgegeben hat.
Neues Tool dockt an die ERP-Systeme an
Neben der Zentralisierung der Logistik brachte Görwitz die Technik ebenfalls von seinem früheren Arbeitgeber mit. Das Tool "way SCS" des SCM-Spezialisten Wassermann schaltete Altana vor die ERP-Systeme. "Es registriert die Bestände in den Produktions- und Vertriebsstätten, zieht sich die Informationen aus den ERP-Systemen heraus und gleicht sie mit den Aufträgen ab", sagt Görwitz, den definierte Prozesslogiken von SAP immer wieder in Rückstand brachten. Beim Prozess-Chef schlagen die Ergebnisse des Spezialtools heute in Form von bunten Charts auf, aus denen er Lieferengpässe erkennen kann. "In der Anfangszeit haben wir dreimal täglich die Bottlenecks auf den Bildschirm bekommen", erläutert Görwitz. Inzwischen ist die Technik weiter entwickelt - derzeit läuft der Roll-out des ersten Real-Time-Tools "way RTS". Die Produktionsorte Singen und Oranienburg sowie Mexiko City und Sao Paulo sind bereits angeschlossen. Der weltweite Roll-out soll Ende 2006 abgeschlossen sein. Sekündlich bekommt der Lieferketten-Chef Bestände auf den Schirm - so aktuell sie vor Ort sein können.
Um künftig für plötzliche Auftragsschübe gerüstet zu sein, lässt Altana derzeit einen neuen Produktionsstandort in Irland bauen - mit exakt der gleichen Technik und Informationstechnologie wie das Werk in Oranienburg. Das Produktionskonzept gehört zur neuen Backup-Struktur bei Altana.
Die Reflux-Gefahr möchte Görwitz beim neuen Hoffnungsträger auf dem Markt, dem Asthma-Medikament Alvesco, von vornherein ausschließen. Deshalb setzte er für das Spray, das in Deutschland und Großbrittanien bereits auf dem Markt ist, wieder auf seinen Drei-Punkte-Plan. Für alle Entwicklungsprojekte schickt er zudem einen Prozesskenner auf die Schnittstelle zwischen der Forschung und der Produktion, um alle technischen Sachverhalte vor der Markteinführung von neuen Produkten zu klären - "ein Kernproblem in der Pharmaindustrie", so Görwitz.
Görwitz lässt Lieferkette vordesignen
Als Mittler im Entwicklungsteam soll er das Sourcing klären, Qualitäten, Backup-Konzepte diskutieren und die Lieferkette schon mal vordesignen. Nur so - meint der Finanzchef - lasse sich eine realistische Fünf-Jahres-Vorschau erstellen - Rough Cut Capacity Planning genannt. Schließlich hat ein Pharmakonzern während der Entwicklung bis zum Abschluss der klinischen Studien in der Regel 800 Millionen Euro ausgegeben. Da sollte am Tag der Einführung klar sein, welche Marktanteile und Konkurrenzprodukte zu erwarten und welche Zusatztechnologien für die Produktion nötig sein werden. Und möglichst viel Geld soll in die Kassen fließen, solange das Medikament Patentschutz genießt.
Die Besonderheit bei Alvesco: Anders als bei Pantozol stellt Altana das Medikament nicht selbst her, sondern lässt es ausschließlich von Partnern produzieren. Die sind jedoch technisch nicht auf dem gleichen Stand wie Altana. Inzwischen allerdings hat sich immerhin der Kooperationspartner Isochem bereits überzeugen lassen, auch "way" als SCM-Technik für eine Punktlandung in der Bedarfsplanung einzusetzen.
Derweil visioniert Görwitz über ein Real-Time-Management-Reporting-System. Schließlich - so ist der CFO überzeugt - "laufen die Finanzströme parallel zu Lieferströmen". Und die sind ja herkömmlicherweise das Kerngeschäft eines CFOs.