Exklusiv-Interview mit dem CTO
Warum Siemens-Vorstand Russwurm sich für den Raspberry Pi interessiert
- Technische Einschränkungen waren Russwurm zufolge bislang stets ein Hindernis. Jetzt nicht mehr.
- Software-Entwicklung funktioniert bei Siemens nach dem "Zwiebelschalen-Modell"
- Industriestandards müssen sich laut Russwurm bottom-up entwickeln
Sprechen wir zuerst über die Digitalisierung im Siemens-Konzern selbst. Während Jeffrey Immelt, CEO von General Electric, immer wieder mit dem digitalen Umbau seines Konzerns prahlt, ist es um Siemens ungewöhnlich ruhig. Wo stehen Sie beim digitalen Umbau?
Siegfried Russwurm:Für einen Konzern wie SiemensSiemens, der in ganz vielen unterschiedlichen Arbeitsfeldern aktiv ist, prägt sich die Digitalisierung vielfältig aus. Deshalb macht es wenig Sinn, sich hier mit einer Kampagne groß in Szene zu setzen. Wir würden alles über einen Kamm scheren, was wir nicht wollen. Top-500-Firmenprofil für Siemens AG
Heißt Digitalisierung für das Geschäftsmodell von Siemens, dass künftig mehr Geld mit Softwarelizenzen verdient wird?
Siegfried Russwurm: Unser Geschäft im Bereich der DigitalisierungDigitalisierung steht heute auf drei Säulen. Erstens sind wir ein Softwarehersteller, der Lizenzen verkauft - zunehmend auch in Form von SaaS-Diensten aus der Cloud. Damit machen wir heute schon mehr als drei Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Er wächst stetig, den größten Anteil davon macht heute noch unser konventionelles On-Premise-Lizenzgeschäft aus. Wir haben aber das Thema SaaS inzwischen gut verstanden, kennen und "können" die Mechanismen. Alles zu Digitalisierung auf CIO.de
Ein zweites, mit rund 600 Millionen Euro Umsatz noch relativ kleines Pflänzchen, das aber rasant wächst, sind unsere digitalen Services. Hier bieten wir echte digitale Mehrwertdienste aus der Cloud. Zum Beispiel die optimierte Steuerung einer Windfarm. Wenn Sie 50 Windturbinen ins Meer stellen und nicht aufpassen, wie Sie in diesem Feld die erste und zweite Reihe ansteuern, dann stehen die dritte und die vierte Reihe in deren Windschatten, und die Auslastung ist suboptimal. Zu entscheiden, wie viel Energie wir in den ersten Reihen herausnehmen, damit in den hinteren noch genug ankommt, ist eine komplexe Aufgabe. Wir gehen sie mit Machine Learning an.
Die dritte und größte Säule ist, dass wir unsere bestehenden Produkte und Dienstleistungen durch Digitalisierung leistungsfähiger, besser und kundenfreundlicher machen. Digitalisierung ist also keine Revolution für den Siemens-Konzern, sondern eine Evolution.
Es gibt keine technischen Einschränkungen mehr
Trotzdem hebt das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung gerade erst so richtig ab. Woran liegt das?
Siegfried Russwurm: Das Timing wird maßgeblich durch das exponentielle Wachstum von ein paar Basistechnologien bestimmt. Mein persönlicher Benchmark ist der Raspberry Pi. Wenn ich sehe, dass ich so einen kompletten Rechner, der die Größe eines Mobiltelefons hat, für rund 35 Euro beim Versandhändler bekomme, dann weiß ich, dass es in der Herstellung wahrscheinlich keine zehn Euro kostet. Und es hat schon eine ganz erhebliche Rechenleistung.
Es gibt kaum noch Bereiche im industriellen Umfeld, in denen Rechenleistung eine Einschränkung wäre. Wir können alles rechnen, was zu rechnen ist. Ähnliches gilt für das Thema Bandbreite. Klar haben wir noch jede Bandbreite gefüllt bekommen. Aber wenn man vergleicht, was wir heute schon übertragen können - auch wieder zu relativ geringen Kosten -, dann ist das unglaublich. Das Gleiche gilt für Speicher, und so haben wir allmählich alle Basistechnologien beisammen. Was jetzt neu hinzukommt und die digitale mit der realen Welt viel stärker verbindet, ist, dass auch Leistungshalbleiter durch neue Technologien wie Galliumnitrid in ganz andere Dimensionen vorstoßen.
Eine der Basistechnologien für Digitalisierungsprojekte ist die Cloud. Wie stellt sich Siemens hier auf?
Siegfried Russwurm: Wir passen uns den Anforderungen unserer Kunden an. Manche fühlen sich gut, wenn sie den Server auf ihrem eigenen Gelände haben. Das können wir installieren und auch die Wartung übernehmen. Dann gibt es andere, die sagen, ich fühle mich in einer "Managed Private Cloud" wohler: Dann stehen eben Rechner im Data Center, die nur für diese Kunden arbeiten. Und dann gibt es wieder andere, die vertrauen ganz auf die Public Cloud, weil sie dort alle Sicherheitsvorkehrungen mitbekommen, ohne dafür dediziert und einzeln zahlen zu müssen. Wir können unsere Applikationen in allen Varianten bereitstellen, ganz nach Kundenwunsch.
Intelligente Analytics-Systeme kann man nicht kaufen
Zu den Schlüsselanwendungen im Bereich Digitalisierung gehören Analytics- und Big-Data-Tools. Entwickeln Sie hier selbst, oder holen Sie sich die Produkte, die sie brauchen, am Markt?
Siegfried Russwurm: Wir nutzen das, was es an generischen Algorithmen am Markt gibt. Spannend wird Data Analytics aber erst dann, wenn ich diese Algorithmen für ganz spezifische Anwendungsfälle nutze. Wenn Ihnen der Wetterbericht sagt: In München gibt es Schneegriesel, dann werden Sie sagen, schön, aber das sehe ich, wenn ich aus dem Fenster schau. Sagt der Wetterbericht: Bis morgen früh wird es weiter Schneegriesel geben, ist das schon besser - "Predictive Analytics". Die Königsdisziplin ist aber, diese Vorhersage mit einer konkreten, verbindlichen Empfehlung zu verbinden, etwa "Morgen früh wird es weiter Schneegriesel geben, deshalb ist auf den Straßen mit Behinderungen rechnen - öffentlicher Nahverkehr wird empfohlen".
Nehmen wir den Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes: Erhält er auf hoher See die Information, dass er die nächsten vier Tage nur noch mit maximal 80 Prozent Leistung fahren kann, wenn er seine Fahrt trotz Lagerschadens im Antrieb noch zu Ende bringen will, ohne unterwegs Teile austauschen zu müssen, dann ist das für ihn eine entscheidende Information. Solche Systeme können Sie nicht kaufen. Da müssen Sie beispielsweise genau das Zielsystem und die Versagensmechanismen kennen. Aber was darunter liegt, die Algorithmen per se, muss man nicht neu erfinden - diese kann man wiederverwenden.