Knorr-Bremse
Wenn aus Bremsdaten neue Geschäftsfelder entstehen
"Es gibt keinen Fahrstuhl zur DigitalisierungDigitalisierung", sagt Helmut DraxlerHelmut Draxler. "Sie müssen schon die Treppe nehmen." Der seit Januar 2016 amtierende CIO der Knorr-Bremse AGKnorr-Bremse AG hat einen konkreten Plan, wie er die vielen kleinen und großen Stufen beim digitalen Umbau des Traditionskonzerns ersteigen will. Die Wachstumsziele des Herstellers von Bremssystemen und wei-teren Subsystemen für Schienen- und Nutzfahrzeuge sind ehrgeizig. Top-500-Firmenprofil für Knorr-Bremse AG Profil von Helmut Draxler im CIO-Netzwerk Alles zu Digitalisierung auf CIO.de
Damit einher geht ein grundlegender Strategiewechsel. Knorr-Bremse will nicht nur organisch, sondern auch über Zukäufe wachsen. Allein im Jahr 2016 übernahm der Konzern sieben Unternehmen. "Für die IT bedeutet das unter anderem, Anwendungen stärker zu standardisieren und Prozesse anzupassen und somit Integrations- und Skalierungsfähigkeit zu schaffen", erläutert der gelernte Informatiker, der auch eine Zusatzausbildung als Betriebswirt absolviert hat.
Dafür und für die wachsenden Anforderungen der Digitalisierung veränderte er auch die hergebrachte IT-Strategie. Die drei strategischen Imperative heißen nun "Cloud first", "Mobile first" und "Der Kunde steht im Mittelpunkt". Hier sind der CIO und CFO Ralph Heuwing, an den Draxler berichtet, auf einer Wellenlänge.
Cloud first bedeutet für den CIO, dass Knorr-Bremse Commodity-Anwendungen wie Office künftig konsequent aus der Cloud bezieht. Im Zweifel gelte stets die Devise, mit weniger On-Premise-Systemen auszukommen. Nur strategische Systeme sind ausgenommen, wie etwa der Be-reich PLM (Product-Lifecycle-Management), wo der Konzern bis auf Weiteres an Systemen der Softwarelieferanten PTC und Siemens festhalten will. In Sachen ERPERP und der geplanten Migration von SAP R/3 zu S/4HANA stehen die Weichen eindeutig in Richtung Cloud-basierter Systeme. Die Roadmap vieler anderer Hersteller gehe auch klar in diese Richtung. Alles zu ERP auf CIO.de
Mit der Vorgabe Mobile first will der IT-Chef sicherstellen, dass mobile Geräte wie SmartphonesSmartphones und TabletsTablets Zugriff auf Unternehmensanwendungen erhalten. Klassische Desktop-Systeme rangieren auf der Prioritätenliste zunehmend weiter unten. Draxler geht noch einen Schritt weiter und nennt das autonome Fahren als Beispiel. Aus seiner Sicht ist auch eine Lokomotive ein mobiles Device, das künftig etwa selbständig Ersatzteile nachbestellen könne. Der sichere Zugriff auf Enterprise-Anwendungen sei dafür unabdingbar. Alles zu Smartphones auf CIO.de Alles zu Tablets auf CIO.de
Agile bringt nicht nur Vorteile
Die Forderung "Der Kunde steht im Mittelpunkt" mag abgedroschen klingen, räumt der Manager ein. Bei genauerem Hinsehen aber seien viele Unternehmen davon noch weit entfernt: "Nehmen Sie zum Beispiel den Trend Agile: Da erlebt man oft das Gegenteil." Allzu oft reife das Produkt beim Kunden und stelle nicht die Kundenbedürfnisse ins Zentrum. Um die Aussage richtig zu verstehen, hilft ein Blick auf das Portfolio der Knorr-Bremse. Komplexe Produkte wie Bremssysteme oder Türsteuerungen für Schienenfahrzeuge müssen extrem hohen Sicherheits- und Verfügbarkeitsstandards genügen.
"Eine MVP-Lösung für eine Bremse? - Das geht gar nicht", sagt der CIO unter Anspielung auf den Begriff des Minimum Viable Product (MVP), den die Protagonisten des Design ThinkingDesign Thinking gerne verwenden: "Wir können nicht mit halbfertigen Produkten auf den Markt gehen. Unsere Systeme müssen in der Praxis nicht zu achtzig, sondern zu hundert Prozent funktionieren." Alles zu Design Thinking auf CIO.de
Ein Schlüsselthema ist für Draxler die Modernisierung der historisch gewachsenen Anwendungslandschaft. Auch wegen diverser Zukäufe habe Knorr-Bremse derzeit eine vierstellige Zahl unterschiedlicher Anwendungen in Betrieb. Wer sich mit Data Analytics, Augmented Reality oder künstlicher Intelligenz beschäftige, komme an der Frage nicht vorbei, wie sich die Komplexität der vorhandenen IT und die Zahl der genutzten Systeme reduzieren lasse, argumentiert er.
Als ERP-System setzt der Konzern mit Hauptsitz im Münchner Norden derzeit SAP R/3 in jeweils eigenen Instanzen für die Unternehmensbereiche Rail und Truck und mit zahlreichen lokalen Adaptionen ein. Draxlers Ziel ist ein einziges durchgängiges System mit mehreren Buchungskreisen. Perspektivisch bewege sich Knorr-Bremse klar in Richtung SAP HANA. Spätestens 2025, wenn SAP sein R/3-System nicht mehr weiterpflege, wolle man die Migration auf HANA in allen Bereichen abgeschlossen haben.
Ein Big-Bang-Ansatz funktioniere für ein Vorhaben dieser Größe nicht. Das mit HANA einhergehende Cloud-Betriebsmodell eröffne aber die Möglichkeit, "die Anwendungsmodernisierung auf der Zeitachse zu takten". So sei man dabei, sukzessive vom On-Premise-CRM-System der SAP auf SAP C4C (Cloud for Customer) umzusteigen. Im Personalwesen sei der Einsatz der Cloud-Lösung SuccessFactors geplant.
Abwrackprämie für Altanwendungen
Um die Ablösung von Altanwendungen zu forcieren, hat sich Draxler etwas Besonderes ausgedacht. Bereiche, die alte Programme ausmustern, sollen eine Art Abwrackprämie erhalten. Der CIO will dazu eigens einen "Shutdown Award" ins Leben rufen: Wer besonders viele Anwendungen abschaltet, qualifiziert sich für diesen Preis.
Anreize setzt Draxler auch über das Service-Management seines IT-Bereichs. Der Betrieb von Legacy-Anwendungen soll systematisch verteuert, der Einsatz moderner Standardsoftware dagegen bei der internen Verrechnung von IT-Diensten belohnt werden. 2017 habe die IT erstmals Geld an die Fachbereiche zurückerstattet, erzählt der CIO stolz.
Zukunftsthema Data Analytics
Das wichtigste Zukunftsthema heißt für Draxler Data Analytics in Verbindung mit künstlicher Intelligenz (KI). Dafür habe die IT zunächst die Governance-Voraussetzungen geschaffen und im zweiten Schritt das Thema breiter ausgerollt. Viele Unternehmen gingen den umgekehrten Weg. Die Mitarbeiter der Knorr-Bremse nutzten in Sachen Analytics eine Datenbank mit einem einzigen großen Data Lake, in dem sämtliche strukturierten und unstrukturierten Daten zusammenflössen. Der zentrale Datentopf werde den Fachbereichen zusammen mit einschlägigen Tools von der IT zugänglich gemacht.
Personell hat der Konzern seine Analytics-Initiativen mit einer Reihe von Data Scientists ausgestattet, meist Physiker oder Mathematiker, die möglichst nah am Produkt in den jeweiligen Fachbereichen arbeiten. Per "dotted line" sind sie mit den Data Analysts in der zentralen IT verbunden. Hier laufen mit Hadoop und SAP HANA auch die technischen Plattformen. Historisch bedingt haben sich auch bei Knorr-Bremse viele dezentrale Datenbestände gebildet, so der CIO: "Die sammeln wir sukzessive ein."
Derzeit beschäftigt das Unternehmen rund 20 Data Scientists. "Wir investieren massiv in das Thema", sagt Draxler. Schon bald sollen 50 bis 60 Data Scientists daran arbeiten, aus den Datenbergen Erkenntnisse zu gewinnen. Das Problem: Solche Experten sind rar. Aus der Sicht von Draxler haben sich Ausbildungsstätten wie die Hochschulen zu spät darum gekümmert. Inzwischen gebe es in dieser Hinsicht aber viel Bewegung, was sich auch in den Lehrplänen widerspiegle.
Ähnliches gilt für KI-Technologien, von denen sich der CIO große Potenziale erwartet. Zum Beispiel erhebe Knorr-Bremse Daten auf Prüfständen, die Fehler simulieren und auf diese Weise Produkte verbessern könnten. Mit intelligenten und selbstlernenden Systemen gelinge es, Muster und Zusammenhänge in den Daten zu erkennen. Solche Informationen könnten Kunden einen zusätzlichen Nutzwert bieten.
Predictive Maintenance
Wie sich Analytics und KI in konkreten Projekten nutzen lassen, zeigt die von Knorr-Bremse entwickelte offene digitale Plattform 4.0 bereits heute im Schienenfahrzeugbereich. Sie überwacht die Zustände von Schienenfahrzeugen und hilft Betreibern, die Verfügbarkeit der Fahrzeuge zu erhöhen sowie eine vorausschauende und kostengünstigere Wartung einzuführen (Predictive Maintenance). Die digitale Plattform 4.0 für die Bahnbranche ist bereits in mehreren europäischen Ländern im Einsatz.
Die Pläne gehen indes weit über diesen Bereich hinaus. So wollen die Münchner zusätzliche Subsystemlieferanten für Schienenfahrzeuge an Bord holen, um den Nutzen für die Betreiber zu erhöhen. "Gegenwärtig ist die digitale Plattform noch stark auf die Bremssysteme ausgerichtet", schildert Draxler. Das Management wolle das Thema breiter angehen und über die klassischen Bereiche hinaus erweitern.
Grundsätzlich gelte: Je mehr Daten von unterschiedlichen Systemen gesammelt würden, desto größer der Nutzen für die Beteiligten. Dazu hat Knorr-Bremse mehrere strategische Allianzen geschlossen, beispielsweise mit Herstellern aus den Bereichen Brandschutz, Kupplungs- und Kugellagersysteme. Der niederländische Betreiber NedTrain etwa überwacht mit der Applikation die Zustände von Kompressoren. Die DB Regio AG behält mit der Software die elektrischen E3-Schwenkschiebetüren von Doppelstockwagen im Auge. Eine Pilotinstallation zum Überwachen hydraulischer Bremssysteme ist in einer Straßenbahn der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) unterwegs.
"Wir beherrschen heute die Bremse", beschreibt der CIO die Entwicklung. "Aus den generierten Daten ließe sich beispielsweise eine Bremslandkarte für bestimmte Zugstrecken entwickeln und vermarkten." Am Ende könnten aus den trockenen Bremsdaten ergänzende Produkte oder sogar neue Geschäftsfelder entstehen. Denkbar ist für Draxler etwa ein Mautsystem, das sich am Fahrverhalten der Trucks orientiere, nach dem Motto: "Wer sanft bremst und den Fahrbahnbelag schont, zahlt weniger."
Digital Board steuert Initiativen
Solche und andere Initiativen sind regelmäßig Thema im Digital Board der Knorr-Bremse. Dort sitzen neben CEO Klaus Deller, CFO Ralph Heuwing und dem CIO unter anderem auch die Geschäftsführer der Sparten Rail und Truck. Ein Ziel des Gremiums ist es, "den Plattformgedanken voranzutreiben", erläutert Draxler. Ein anderes wichtiges Thema ist die Frage, wie sich neue Technologien wie Augmented Reality (AR) geschäftlich nutzen lassen, zum Beispiel im Servicegeschäft oder in der Logistik.
Einmal im Jahr veranstaltet der CIO zusammen mit Patrick Härter, der das Programm "Knorr Excellence" verantwortet, die "Digital Days" für das Management. Mit Vorträgen und in Workshops können sich die Experten über neue Themen wie Process Analytics, Augmented Reality oder künstliche Intelligenz informieren und für ihre Spezialbereiche nutzbar machen.
Hilft die Bimodal IT?
Dass sich der digitale Umbau mit einer Bimodal IT möglicherweise einfacher bewältigen ließe, glaubt der CIO nicht. "Eine Two-Speed-IT führt zu zwei IT-Organisationen - einer schnellen und einer langsamen. Eine 'Fancy' und eine 'Legacy'. Ich glaube, man kann das nicht trennen." Unterschiedliche Geschwindigkeiten seien andererseits ein Faktum, was etwa am IT-Bebauungsplan der Knorr-Bremse deutlich werde. Hier sind unter anderem PLM-Systeme verzeichnet, die in der Regel zehn bis 15 Jahre in Betrieb sind. Ganz anders verhält es sich mit CRM-Systemen, die gewöhnlich nur eine Halbwertszeit von fünf Jahren haben. Draxler sieht seine Aufgabe darin, die unterschiedlichen Lebenszyklen der Anwendungen aufeinander abzustimmen.
Lessons Learned
Die Diskussion um die digitale Transformation ist gepflastert mit Buzzwords, resümiert der IT-Chef. Er rät zu einer achtsamen Verwendung: "Agile und Fragile liegen in der Praxis oft nur einen kleinen Schritt auseinander." IT- und Digitalisierungsverantwortlichen empfiehlt er realistischere Zeitvorgaben: "Die Vorstellung, den digitalen Umbau innerhalb eines Jahres stemmen zu können, ist naiv." Hilfreich für ihn sei die sogenannte "Drei-Tr-Regel": "Wenn Tradition auf einen neuen Trend trifft, braucht es einen Transformationsplan." Der müsse sich über mehrere Jahre erstrecken.