Nützliche Nähe
Die neue Offenheit der Top-Manager
Der Brief ist registriert unter der Nummer 1-5805, umfasst fünf Absätze - und kommt direkt zur Sache: "Ich wollte Sie wissen lassen, dass bei mir Kehlkopfkrebs entdeckt wurde", schreibt Jamie unverblümt. "Meine Ärzte halten die Chance auf Heilung für exzellent, der Krebs wurde früh erkannt."
Mit seinem Schreiben an die "lieben Kollegen und Aktionäre" wurde JP-Morgan-Chef James Dimon, einer der mächtigsten Banker an der Wall Street, über Nacht zum bekanntesten Krebspatienten der Vereinigten Staaten. Und das ganz ohne Hinzutun der Klatschpresse.
Der 58-Jährige selbst informierte Mitarbeiter und Aktionäre am 1. Juli in einem Memo detailliert über seine Diagnose. Der Krebs habe nicht gestreut. Er müsse sich nun einer acht Wochen dauernden Therapie unterziehen, könne in dieser Zeit weniger reisen, würde die Geschäfte aber weiterführen. Selbst den Namen der behandelnden Klink nennt er. Und will "alle darüber informieren, sollte sich mein Gesundheitszustand ändern". Neue Erkenntnisse, präzisiert er knapp zwei Wochen später in einer Telefonkonferenz zu den aktuellen Quartalszahlen, werde es wohl Ende August geben. "Aber mir geht es schon besser."
"Ein cleverer Schachzug"
Natürlich: Mit ihrem Schritt an die Öffentlichkeit wollten Dimon und sein Arbeitgeber sich zuallererst juristisch absichern. "Keineswegs selektiv informieren und nötigenfalls rasch nachlegen", empfiehlt auch Anwalt Hansjörg Heppe, Partner bei Locke Lord in Dallas.
Die Aktie der Bank immerhin verlor nach Dimons Statement kaum an Wert. Ganz anders etwa als beim Technologiekonzern AppleApple, dessen Börsenkurs im Jahr 2008 kurzzeitig abstürzte, als Finanzchef Peter Oppenheimer nach Gerüchten um eine Erkrankung von Steve Jobs die GesundheitGesundheit des CEOs zur Privatsache erklärt hatte. Alles zu Apple auf CIO.de Top-Firmen der Branche Gesundheit
"Dimons Schritt in die Öffentlichkeit ist ein cleverer Schachzug", sagt Frank Dopheide. Der Geschäftsführer der Agentur Deutsche Markenarbeit berät Manager beim Aufbau ihres Images. "Dimon beruhigt nicht nur Investoren und Mitarbeiter, er sichert sich damit die Deutungshoheit über seinen Gesundheitszustand und erstickt Gerüchte im Keim."
"Privatsphäre ist ein Luxusgut"
Ob Informationen über ihre Gesundheit, anstehende Hochzeiten oder Scheidungen oder eine Äußerung zu ihrer sexuellen Orientierung: So wie JP-Morgan-Chef Dimon gewähren inzwischen zahlreiche Top-Manager und Politiker Einblicke in ihre Privatsphäre. Nutzen privat gefärbte Geschichten, um ihre persönliche Marke zu stärken, rufschädigenden Gerüchten vorzubeugen oder das Vertrauen von Belegschaft, Aktionären und der Öffentlichkeit zu gewinnen.
"Der kalkulierte Drang in die Öffentlichkeit ist eine unbestrittene Tendenz unserer Zeit", sagt Managementautor Reinhard Sprenger. "Je künstlicher unsere Welt wird, desto stärker wird der Kult des Authentischen, des Greifbaren gepflegt. Dazu gehört auch, Privates öffentlich zu machen."
Zumindest in den USA ist das schon lange Usus: "Privatsphäre ist ein Luxusgut, das sich Vorstandsmitglieder nicht leisten können", sagt Nell Minow vom Marktforscher Corporate Library. Autozulieferer Tenneco informierte 1993 die Öffentlichkeit umgehend über den Gehirntumor von Firmenchef Michael Walsh, Intel-Mitbegründer Andy Grove schrieb 1996 sogar einen Magazinartikel über seine Prostataerkrankung. Starinvestor Warren Buffett berichtete den Anteilseignern seiner Investmentholding Berkshire Hathaway im Frühjahr 2012 von seiner Krebs-Diagnose, Rupert Murdoch sprach im April dieses Jahres mit dem US-Magazin "Fortune" über seine Scheidung von Wendi Deng. Und Marissa Mayer twitterte, kurz nachdem sie ihren Vertrag als neue Yahoo-Chefin unterschrieben hatte: "Wir erwarten ein Baby!"
"Top-Manager sprechen nie ohne Hintergedanken über Privates", sagt Markenexperte Dopheide. "Sie sind Profis und bezwecken etwas damit."