Mit Ökosystemen aus der Krise
Digitale Plattformen können mehr
Viele Unternehmen stoßen in zunehmend gesättigten Märkten an ihre Wachstumsgrenzen. Einfach nur alle paar Jahre eine neue Produktgeneration auf den Markt zu werfen, die sich oft nur marginal von den Vorgängern unterscheidet und somit wenige Kaufanreize bietet, reicht nicht mehr aus. Sollen neue Umsatzpotenziale erschlossen, die Wettbewerbsfähigkeit gesteigert und das eigene Wachstumstempo angekurbelt werden, müssen sich die Betriebe neu orientieren, fordern Ökonomen.
Manche Unternehmen tun sich allerdings schwer damit. Die Verantwortlichen denken in den gewohnten Produkt- und Servicekategorien und sehen digitale Technologien als nützliche Inhalte einer Toolbox, mit der die nächste Generation der vorhandenen Produkte einmal mehr gepimpt werden kann. In der Digitalisierung geht es aber um viel mehr. Noch nie konnten Unternehmen so einfach weltweite Partnerschaften knüpfen, neue Kundengruppen erreichen oder kreativ zusammenarbeiten. Auch war es bislang nicht möglich, so viele Detailinformationen über Kunden und ihr Verhalten zu gewinnen, was eine völlig neue Ansprache der Märkte ermöglicht. Und schließlich lassen sich über digitale Plattformen Effizienzvorteile nutzen beziehungsweise Kosten senken.
Die Zeit ist gekommen, um ausgetretene Geschäftspfade zu verlassen, heißt es in der Accenture-Analyse "Weltmarktführer von morgen". Ganz oben auf der Hausaufgabenliste der deutschen Unternehmen sehen die Berater die Entwicklung neuer zukunftsfähiger Geschäftsmodelle – "und zwar im großen Umfang". Das geht aus Sicht von Accenture aber nicht im Alleingang. Nur mit dem Willen zur unternehmens- und branchenübergreifenden Kooperation und einer unterstützend treibenden Wirtschaftspolitik könnten dringend benötigte Investitionen in global relevante digitale Infrastrukturen oder Plattformen gelingen.
Plattform-Business - es geht ums Kaufen und Verkaufen
In den meisten Unternehmen beschränkt sich die Vorstellung von einer digitalen Plattform auf das Kaufmännische: Man möchte die eigenen Produkte und Dienstleistungen verkaufen oder anderswo einkaufen – erfolgreiche Plattformen wie Ebay oder AmazonAmazon dürften hier die Vorbilder sein. Weitergehende Visionen, auf Plattformen Daten zu generieren, zu teilen, zu analysieren, sie mit anderen Informationen in Relation zu setzen oder anzureichern und vor allem mit Partnern neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, bleiben dagegen Mangelware. Der Anteil der Unternehmen, die eine Plattform mit Partnern betreiben, liegt laut Bitkom je nach Branche im mittleren beziehungsweise unteren einstelligen Prozentbereich. Alles zu Amazon auf CIO.de
Dabei ist die Plattformökonomie längst in unserem Alltag angekommen, oft ohne dass wir darüber nachdenken. So zumindest lautet ein Ergebnis der Untersuchung "Plattformökonomie: The winner takes it all" von EY-Parthenon. "Wir kaufen online Produkte, buchen unsere Reisen und Unterkünfte im Netz, sehen Filme auf dem Tablet, rufen Taxis oder zahlen mobil und chatten per Smartphone", heißt es dort. "Plattformunternehmen wie beispielsweise Airbnb, Amazon, Booking.com, Ebay, LinkedInLinkedIn, Netflix, PayPal, Skype, Uber und viele andere sind mittlerweile fester Bestandteil unseres täglichen Lebens geworden und prägen als bevorzugte Einkaufsstätten das Verhalten vieler Online-Kunden." Alles zu LinkedIn auf CIO.de
Geschäftsmodelle der Plattformökonomie
Die EY-Parthenon-Berater unterscheiden grundsätzlich drei unterschiedliche Geschäftsmodelle in der Plattformökonomie:
Technologische Plattformunternehmen bieten die technische Infrastruktur an, inklusive Datenbasis für Geschäftsmodelle und Ökosysteme. Zu den Playern in diesem Feld zählen beispielsweise SAPSAP und MicrosoftMicrosoft. Alles zu Microsoft auf CIO.de Alles zu SAP auf CIO.de
Transaktionale Plattformanbieter fungieren als digitale Schnittstellen zwischen Anbietern und Nachfragenden. Vertreter wie Booking.com, Ebay oder Airbnb bieten raschen Informationsaustausch und zeichnen sich vor allem durch eine hohe Effizienz bei der Abwicklung von Transaktionen aus.
Digitale Ökosysteme sind NetzwerkeNetzwerke verschiedener Unternehmen, die komplementäre Produkte und Dienstleistungen in integrierte Lösungen zusammenpacken und diese den Kunden anbieten. Oft arbeiten in diesen Systemen Digital Champions, etablierte Unternehmen und Startups auf Basis einer technologischen Plattform zusammen, um Lösungen beispielsweise für Smart Cities, Smart Health, oder Smart Farming zu entwickeln. Alles zu Netzwerke auf CIO.de
Letzten Endes können alle Beteiligten von der Plattformökonomie profitieren, schreiben die Studienautoren von EY-Parthenon. Die Betreiber verdienen an Nutzungsentgelten, Kommissionserträgen oder Mikroerträgen entlang der Wertschöpfungskette, zum Beispiel im digitalen Zahlungsverkehr oder im Fulfillment. Anbieter von Produkten und Dienstleistungen erreichen mehr Kunden und erhöhen damit ihr Umsatzpotenzial. Kunden erhalten einen leichteren Zugang zu Produkten und Dienstleistungen über eine im Idealfall benutzerfreundliche digitale Online-Oberfläche.
Plattformen streben nach Monopolen
Was sich so einfach und selbstverständlich anhört, hat aber auch seine Kehrseite. Mit dem Aufkommen der Plattformen verschieben sich Machtverhältnisse im Markt. „Daten als Ressource und Plattformen als Infrastruktur für deren Nutzung verändern die Ordnung der Wirtschaft“, sagen die Berater. Die Marktmacht gehe von einzelnen Anbietern auf die Plattformen über, die mehr und mehr über Produktion und Distribution bestimmten. Dazu komme ein schon in der Plattformidee verwurzeltes Streben nach Monopolisierung. Denn der entscheidende Faktor für den Erfolg einer Plattform sei die Größe. Dabei kommen EY-Parthenon zufolge folgende Effekte zum Tragen:
Netzwerkeffekte: Durch die steigende Zahl der Teilnehmer nimmt die Attraktivität eines Ökosystems sowohl für die Anbieter als auch für die Nutzer zu: Je größer die Kundenreichweite, desto attraktiver die Plattform als Vertriebskanal für die Anbieter, und umgekehrt: Je breiter und attraktiver das Angebot, desto attraktiver ist es für den Kunden.
Skaleneffekte: Mit zunehmender Reichweite und Marktdurchdringung sinken die Transaktions- und Informationskosten. Größere Plattformen können ihre Produkte und Dienstleistungen günstiger anbieten.
Lerneffekte: Mit wachsenden Nutzerzahlen stehen Plattformanbietern auch immer mehr Daten zur Verfügung. Per Datenanalyse lassen sich Angebote individuell auf Kunden zuschneiden und so das Angebot permanent ausbauen und verbessern.
Das Ganze mündet in einen sich selbst verstärkenden Kreislauf. Je mehr relevante Daten und je höher die Data-Analytics-Kompetenz, desto treffsicherer und attraktiver werden die Angebote. Damit erhöht sich die Kundenzufriedenheit. Die Plattform wird relevanter für alle Beteiligten und damit auch erfolgreicher und mächtiger. Wachstum ist also das A und O für Plattformbetreiber und -teilnehmer: Größere Netzwerke sind attraktiver für Kunden und Anbieter, reduzierte Transaktionskosten steigern Skalenerträge, und größere Datenbestände erhöhen die Lerneffekte, so die Analyse von EY-Parthenon. Daher sei der Aufstieg umfassender, branchenübergreifender Plattformen und Ökosysteme erst der Anfang. "Die Macht der Datengiganten und Plattformunternehmen wird weiter zunehmen."
Die Plattformfrage - selbst bauen oder aufspringen?
Die Gretchenfrage, mit der viele etablierte Unternehmen nun konfrontiert sind, lautet: Wie umgehen mit der neuen Plattformökonomie? Sich einer Plattform anschließen oder selbst eine aufbauen? Gerade für den HandelHandel stellt die Plattformfrage eine gewaltige Herausforderung dar, sagt EY-Parthenon-Partner Ludwig Voll. Dort, wo bestehende Plattformen und Ökosysteme bereits eine dominante Marktstellung aufgebaut hätten, sei für Händler in der Regel eine Kooperationsstrategie zielführender. Sie könnten so an den Netzwerkeffekten partizipieren, ohne in den Aufbau eines eigenen Netzwerks zu investieren – was zeitraubend, aufwendig und teuer werden könne. Top-Firmen der Branche Handel
Existierenden Schwergewichten mit einer eigenen Alternativplattform Konkurrenz machen zu wollen, wäre mit gewaltigen Investitionen und hohem Risiko verbunden, warnt Voll. Platz gebe es dagegen in Nischen und Spezialbereichen. Der Berater nennt das Fulfillment als Beispiel – also alles, was mit Bestellannahme, Kommissionierung, Stammdatenpflege, Verpackung, Versand und Retourenmanagement zu tun hat.
Einzelne Händler hätten an dieser Stelle kaum eine Chance, eine eigene Infrastruktur auf die Beine zu stellen, die gegen die Branchenschwergewichte bestehen kann. Gelingt es jedoch, über den Tellerrand zu schauen und auch einmal branchenübergreifend zu denken, lassen sich vielversprechende Projekte auf die Beine stellen. Beispielsweise hat der Online-Händler Notebooksbilliger.de schon vor Jahren beim Ausbau seines Same-Day-Delivery-Angebots in Berlin auf eine Kooperation mit dem Online-Modehändler ZalandoZalando gesetzt. Top-500-Firmenprofil für Zalando
Gerade in der Coronakrise haben sich die Vorzeichen geändert, die Händler müssen sich an ein verändertes Einkaufsverhalten anpassen. Mehr Kunden wollen nun von zu Hause aus shoppen. Den Maßstab, was Lieferzeiten und Preise betrifft, haben die großen Online-Händler gesetzt und damit die Ansprüche der Kunden nach oben geschraubt. Wenn lokale Händler hier mithalten wollen, müssen sie Partnerschaften suchen. Zentrale Frage wird sein, wie ein Unternehmen zum Treiber oder Teilnehmer eines solchen "Ökosystems" werden kann. Dass es auch in der Krise funktionieren kann, haben beispielsweise die Gutscheinplattformen gezeigt. Hier können Verbraucher Gutscheine für Lokale kaufen. Das hilft den Wirten über die Zeit, in der sie ihre Betriebe geschlossen halten müssen.
Wie digitale Plattformen entstehen
Die Analysten von Crisp Research haben kürzlich Designkriterien für plattformbasierte Geschäftsmodelle sowie den Reifegrad digitaler Ökosysteme untersucht. "Alle Unternehmen sind Teil der Digital Economy", lautete das zentrale Fazit der Analysten, "ob sie wollen oder nicht!" Die Facetten, die an dieser Stelle beachtet werden müssen, sind allerdings breit gefächert. Für erfolgreiche digitale Plattformen müssten Unternehmen ihre Organisation und Kultur, das Geschäftsmodell und die Technologielandschaft vorbereiten, heißt es in dem Bericht. "Gemeinsam mit Partnern entsteht so ein digitales Ökosystem."
Crisp zufolge bieten sich unterschiedliche Einsatzszenarien für digitale Plattformen an. Beispielsweise lassen sich bestehende Produkte und Lösungen durch eine digitale Plattform erweitern und so neue Möglichkeiten der Interaktion mit den Kunden eröffnen. Darüber hinaus könnten Plattformen auch ganz neue Möglichkeiten und Umsatzquellen erschließen. Dabei bildet Crisp zufolge die digitale Plattform den Dreh- und Angelpunkt eines neuen Geschäftsmodells, das zuvor nicht möglich gewesen wäre.
Doch digitale Plattformen können nicht nur für mehr Umsatz sorgen, sondern auch Abläufe vereinfachen, sodass die Effizienz bestehender Prozesse erhöht und die Kosten gesenkt werden. Diese Früchte lassen sich in der Regel am einfachsten ernten. So hat die Untersuchung von Accenture gezeigt, dass sich rund drei Viertel der Unternehmen in ihren Plattformbemühungen vor allem auf die Verbesserung bestehender Produkte und Dienstleistungen sowie Innovationen in ihren Prozessen fokussieren. Neun von zehn Unternehmen nennen demzufolge Kostenersparnisse als maßgebliche Kennzahl für den Erfolg ihrer Initiativen. Mehr Effizienz lässt sich auch durch neue digitale Prozesse erzielen. Diese unterstützen einen Ablauf, der nur durch digitale Lösungen möglich wird.
Der Aufbau einer digitalen Plattform lässt sich laut Crisp Research in Schichten gliedern:
Daten machen den Kern einer digitalen Plattform aus. Entweder dient die Plattform direkt dazu, Daten zu generieren und weiterzuverwenden, oder die Analyse der Daten bildet den wesentlichen Teil des über die Plattform transportierten Werts.
Machine Learning & Analytics: Die Daten der Plattform gilt es in einen Kontext zu setzen und in Informationen umzuwandeln. Dafür werden Analytics-Tools und maschinelles Lernen wichtiger. Diese Tools verhelfen zu einer schnelleren und genaueren Datenauswertung.
Business-Logik: Die via Datenauswertung generierte Information muss dann in einen Business-Kontext gesetzt werden. Hierzu ist entscheidend, welche Frage der Information gegenübersteht, und welche Interaktion sie damit auslösen kann. Dazu gilt es zu definieren, welchen Use Case die Plattform abdecken soll.
Applikationen/Software: Die Anwendung bringt im nächsten Schritt die Business-Logik in eine digital konsumierbare Form. Dabei lassen sich auch mehrere Informationen und Logiken miteinander kombinieren. Die Applikationen sind innerhalb der Plattformarchitektur stark vernetzt.
User Interface: Die Anwendungen brauchen eine Schnittstelle zum Nutzer, was meist über grafische Oberflächen auf verschiedenen Endgeräten funktioniert. Visualisierung und User Experience entscheiden über die Nutzungsintensität der User.
Ecosystem: Eine digitale Plattform funktioniert nicht ohne ein Ökosystem aus Entwicklern, Partnern und Nutzern, die untereinander neue Features, weitere Angebote oder auch die soziale Interaktion weiterentwickeln.
Digital Platform: Die Gesamtheit aller Mitwirkenden, Technologien und Prozesse bildet im Endeffekt die digitale Plattform, die einem konkreten Umsatz-, Effizienz- oder Informationsziel im Geschäftskontext dienen soll.
Optionen und Spielarten der digitalen Plattformen sind nahezu unendlich, lautet das Fazit der Analysten. Vom Use Case über das Geschäftsmodell bis hin zur zugrunde liegenden Technologie könnten Plattformen individuell aufgebaut werden – was es für die Verantwortlichen nicht einfacher macht, die richtige Geschmacksrichtung zu finden. Dazu kommen noch unterschiedliche Startvoraussetzungen, verschiedene Zielgruppen, Qualität und Reifegrad der Plattformen, Umfang des Feature-Sets und, und, und. Die Zahl der Variablen ist groß.
Als zentralen Bestandteil digitaler Plattformen, der maßgeblich über Erfolg oder Misserfolg entscheidet, sehen die Crisp-Analysten das Ökosystem. "Ohne die zentralen Akteure sowie darüber hinaus eine große Zahl an Partnern und Förderern, welche die Plattform auf Infrastruktur-, Anwendungs-, Business- oder Interaktionsebene voranbringen, wird sie nicht erfolgreich sein und längerfristig existieren können", heißt es bei Crisp. Erreichbarkeit und Zielgruppe würden um ein Vielfaches größer, damit wachse aber auch der Druck. Vor allem im globalen Wettbewerb müsse sich eine Plattform ständig gegen Konkurrenten wehren.
Auf der Suche nach dem heiligen Plattform-Gral
Trotz aller Herausforderungen: "Digitale Plattformen werden zum heiligen Gral der Unternehmen", sagen die Crisp-Analysten. Ihr Anteil an der gesamten Wertschöpfung werde stark zunehmen. Wer daran partizipieren wolle, müsse einige Hausaufgaben erledigen. Auf der Liste stehen neben dem Aufbau flexibler und hybrider Infrastrukturen und dem Scouting neuer Techniken wie KI und Quantencomputing auch organisatorische und kulturelle Aspekte. Stakeholder- und Community-Management sind noch unbekannte Disziplinen, werden aber immens wichtig. Am Ende müsse es aber nicht immer gleich der große Wurf sein. Betriebe sollten ruhig erst einmal im Kleinen und nah am Kerngeschäft Erfahrungen im Aufbau und Betrieb von digitalen Plattformen sammeln.
Nicht zuletzt brauche es Durchhaltevermögen und einen Kulturwandel. Neben neuen Führungs-, Feedback- und Arbeitskulturen gehöre ein langer Atem dazu. Wenn ein Digitalprojekt mal scheitert, sollte man nicht sofort das große Ganze in Frage stellen. So gerüstet, könnte das Plattformabenteuer gelingen. Es seien neue Wege zu beschreiten, die gut durchdacht sein sollten, wollen die Verantwortlichen nicht die Dramen der klassischen Gralssuche durchleiden. Die nahm für so manchen Ritter ein böses Ende – gefunden ist der Gral bis heute nicht und bleibt Legende.