Absage an top-down
Enterprise Architecture bei Hermes
Die Vorurteile gegenüber Enterprise-Architekten (EA) sind bekannt: hochspezialisierte Experten, die abgekoppelt von der Unternehmenswirklichkeit die IT-Struktur der Organisation modellieren. Der Fokus dieser "Laborarbeit" lag viele Jahre darauf, umfassende Frameworks zur Verfügung zu stellen, um die Steuerung zu verbessern und regelkonformes Arbeiten durchzusetzen.
Das Mitte 2017 gegründete Architektur-Team bei HermesHermes Germany stellte schnell fest, dass diese akademische Perspektive den realen Anforderungen nicht gerecht wird - weder in der schnellen Welt des digitalen Wandels noch in der besonderen Situation der Paketlogistik-Branche und des eigenen Unternehmens. Top-500-Firmenprofil für Hermes
Paketlogistik - eine Branche mit Fokus auf IT
Der Online-Handel boomt, die Zahl der Paketzustellungen wächst kontinuierlich. Neue Wettbewerber kommen hinzu, Subunternehmer bieten ihre Dienste an und der Serviceanspruch von Geschäfts- und Privatkunden steigt kontinuierlich. Auch der Kostendruck wächst ständig, handelt es sich hier doch um einen Markt mit geringen Gewinnspannen.
In der Paketlogistik gibt es nur wenige Möglichkeiten, sich vom Markt zu unterscheiden. Ein Paket wird von A nach B gebracht, die Transportzeiten haben inzwischen alle Wettbewerber so optimiert, dass sich dieser Faktor kaum noch verbessern lässt. Differenzierungsmöglichkeiten bestehen vor allem im Bereich der digitalen Services für Kunden und Partner.
Geschäftskunden erwarten die nahtlose Einbindung in ihre E-Commerce-Systeme, die Partner in den deutschlandweit über 16.000 Hermes PaketShops benötigen einfache Lösungen zum Erfassen von Paketen, und die Endkunden möchten möglichst detailliert und zuverlässig erfahren, wann ihre Waren geliefert werden. Diese komplexen Anforderungen verdeutlichen die große Bedeutung, die der IT in dieser Branche zukommt.
Eine andere EA-Kultur muss her
Die gewachsene, große Applikationslandschaft von Hermes Deutschland lässt sich wie folgt beschreiben: Es gibt keine Standardsoftware für operative Tätigkeiten, dafür aber eine Vielzahl von Eigenentwicklungen. Die Anwendungen sind eng miteinander verwoben, es existieren zahlreiche Schnittstellen, eine ereignisgetriebene Architektur und viele parallel ablaufende Prozesse. 350 IT-Experten sind am Hamburger Unternehmensstandort beschäftigt, wobei die agilen Entwicklerteams weitgehend unabhängig und selbständig arbeiten.
Daten und Informationen zur IT-Landschaft waren vor der Gründung des EA-Teams in verschiedenen Initiativen manuell in Excel-Tabellen und mit der Wiki-Software Confluence erfasst worden. Was fehlte, war eine zentrale Übersicht aller Applikationen und Services, um zukunftsfähig agieren zu können. Die Ziele für das Architektur-Team waren klar: Kurzfristig sollten Transparenz und eine belastbare Datenbasis geschaffen werden, um die Applikationslandschaft prüfen und rationalisieren zu können.
Auf dieser Grundlage wurde beschlossen, mittelfristig geeignete Anwendungen in die Cloud zu migrieren. Vor allem aber galt es, die Abstimmung zwischen Business und IT zu verbessern, um mit Blick auf zukünftige Geschäftsentwicklungen IT-Szenarien besser und zielgenauer entwerfen zu können.
Das EA-Team war sicher, dass ein top-down agierendes Enterprise Architecture Management (EAM) an diesen Aufgaben scheitern würde. Mit Blick auf die ausgeprägten Abhängigkeiten zwischen den vorhandenen Hermes-Applikationen und die selbstbestimmte DevOps-Welt im Unternehmen entschied das Team, das EA-Rollenverständnis um 180 Grad zu drehen. Der Leitgedanke der Integration wurde zum Ausgangspunkt aller Maßnahmen.
- Klar definieren, wer jetzt was zu tun hat
Mit dem Change geraten Zuständigkeiten und Rollen ins Fließen. Von Tag Eins an muss jeder Mitarbeiter wissen, was er jetzt im Moment zu tun hat. Bis sich das ändert und eine neue Ansage kommt. - Die Aufgaben nur skizzieren
Wer seine Mitarbeiter mitgestalten lässt, erreicht mehr. Deshalb ist es ratsam, eine grobe Skizze des Veränderungsprojektes zu zeichnen und das Team Vorschläge zur Ausarbeitung machen zu lassen, als einen schon komplett ausgereiften Plan zu präsentieren. - Die Team-Perspektive einnehmen
Wie betrifft der Change die Team-Mitglieder, was bedeutet die Initiative aus ihrer Sicht – wer diese Perspektive einnimmt, hat die Mitarbeiter auf seiner Seite. - Erfahrungen teilen
Erfahrungen teilen: Soweit möglich, sollten Mitarbeiter an konkreten Aktivitäten wie etwa Besuchen beim Kunden teilnehmen. Je näher sie den Change miterleben, umso besser. - Fragen zulassen
Fragen, die aus dem Team kommen, dürfen nie als Widerstand gelten. Ganz im Gegenteil. Ein Chef, der Fragen zulässt und sie beantwortet, kann schneller Teilverantwortungen an die Mitarbeiter übertragen. - Die Wirtschaftlichkeit darstellen
Neben viel Kommunikation mit dem Team geht es auch darum, Metriken und Kennzahlen für das Veränderungsprojekt zu entwickeln und diese deutlich zu machen. - Wissen, wo der Fokus ist
Innerhalb eines Changes ist viel Kleinteiliges zu klären und zu organisieren. Der Fokus darf darüber nicht vergessen werden. Regelmäßige Treffen müssen sich immer wieder auf diesen Fokus beziehen, eindeutige Metriken müssen deutlich machen, wo das Team gerade steht. - Teilziele updaten
Nicht jeder Meilenstein wird so zu erreichen sein wie ursprünglich geplant. Es ist daher wichtig, gemeinsam mit dem Team Teilziele regelmäßig auf den aktuellen Stand zu bringen. - Sich abstimmen
Gemeinsame Kalender für das Veränderungsprojekt und gemeinsam entwickelte Guidelines, die die Prioritäten festlegen: Das sind gute Wege, um die Arbeit der einzelnen Team-Mitglieder immer wieder aufeinander abzustimmen. - Commitment organisieren
Wer übernimmt die Verantwortung wofür und wie regelt das Team, dass diese Verantwortlichkeiten auch konkret ausgeführt werden? Solche Fragen sind gemeinsam zu klären. Die einzelnen Mitarbeiter müssen wissen, welchen Teil sie übernehmen, und sie müssen konkret formulieren können, was sie dafür von ihrem Chef brauchen. - Den Change in seine Geschichte einbinden
Das Team muss wissen, an welche früheren Punkte im Unternehmen der jetzige Change anknüpft und welche zukünftige Richtung sich damit abzeichnet.
Integration als Schlüssel zum Erfolg
Die Idee von Integration, das Eingliedern in ein großes Ganzes, betraf zuerst das EA-Team selbst. Das bedeutete keinesfalls einen Machtverlust, im Gegenteil: Die Öffnung stärkte die Akzeptanz im Unternehmen. Für die Enterprise-Architekten bei Hermes Germany lautet heute die erste Maxime: Zuhören. Enterprise-Architekten müssen die Branche, das Geschäftsmodell und die individuellen Herausforderungen des Unternehmens verstehen - denn genau das ist die entscheidende Triebkraft hinter einer Vision der Architektur.
Es gilt Fragen zu beantworten wie: Wo könnte die Paketlogistik in fünf Jahren stehen? Welche Services müssen bereitgestellt werden, um die optimale Anbindung von Drittanbietern zu gewährleisten? Welche Applikationen erfüllen aus Sicht der Beschäftigten welchen Zweck? Welche Tools werden benötigt? Wie kann das EAM Innovationsprojekte frühzeitig unterstützen? Nur wer fragt und zuhört, kann Erkenntnisse gewinnen.
Jedes Modell einer Unternehmensarchitektur muss aber auch verständlich vermittelt werden, weshalb die zweite Maxime lautet: erklären. Die Enterprise-Architekten müssen ein Tool implementieren, das für alle einfach zu verstehen und zu nutzen ist. Es geht darum, Fachwissen zu verknüpfen, Hürden abzubauen und eine gemeinsame Sprache zu finden, um an einer zentralen Stelle relevante Daten zu sammeln und für alle verfügbar zu machen. Je intensiver die Kollaboration, desto valider ist die Datenbasis für unternehmerische Entscheidungen.
Die dritte Maxime für das EA-Team bei Hermes Germany lautet: involvieren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen zu einer dauerhaften Zusammenarbeit motiviert werden. Nur wenn sich alle Stakeholder im Unternehmen durchgehend an allen Prozessen beteiligen, kann eine hohe Qualität der verfügbaren Daten gewährleistet werden. Und nur wenn alle Mitarbeiter hinter einer gemeinsam entwickelten Zukunftsvision stehen, kann diese auch Realität werden.
Schlanke, ganzheitliche Softwarelösung
Der Umgang mit Unternehmensarchitektur als alltägliche Normalität: Das war das Ziel des Hermes EA-Teams. Um die Möglichkeiten zur sozialen und technischen Integration zu schaffen, implementierten die Architekten eine moderne SaaS-Lösung. An zentraler Stelle sollten die Abhängigkeiten der Applikationen untereinander und die jeweils unterstützten Geschäftsfertigkeiten erfasst und dargestellt werden können.
Die Entscheidung fiel auf eine EA- Suite des jungen Anbieters LeanIX, wobei das wichtigste Argument die vielfältigen visuellen Darstellungsmöglichkeiten und die einfache Verständlichkeit waren. Die Architekten wollten schließlich die Zusammenarbeit aller Stakeholder im Unternehmen erreichen. Dank eines einfachen und flexibel erweiterbaren Datenmodells konnte das Team relativ schnell belastbare Daten zu den im Unternehmen vorhandenen Applikationen vorweisen.
Weil die Enterprise-Architekten bei Hermes Germany einen Best-of-Breed-Ansatz verfolgen, spielt bei ihren Maßnahmen auch die technische Integration vorhandener Software eine wichtige Rolle. Spezialisierte Tools, die für ihren Bestimmungszweck perfekt sind, haben natürlich ihre Berechtigung - aber sie müssen miteinander verknüpft sein, um Datensilos zur vermeiden und die Aktualität aggregierter Daten an einer Stelle zu gewährleisten. So versteht Hermes Germany heute die EA-Lösung als zentralen Eintrittspunkt in die eigene Datenwelt, um Informationen über die gesamte Anwendungslandschaft zu erhalten und von dort in die spezialisierten Tools einzusteigen.
Bereits realisiert wurden der automatisierte Datenaustausch mit der Geschäftsprozess-Software Signavio, die Anbindung des IT Service-Management-Tools BMC Remedy sowie die Integration mit der IT-Finanzmanagement-Lösung Apptio. Die Verknüpfung von Kosteninformationen mit umfassenden Daten der IT-Landschaft bietet einen unmittelbaren Mehrwert, weil Querschnittsfunktionen automatisiert zusammengebracht werden.
Cloud-Migration möglich machen
Mit dem detaillierten Abbild der Applikationslandschaft konnte das Team die Voraussetzungen dafür schaffen, Anwendungen in die Cloud zu migrieren. Dieses Vorhaben beschäftigt die ganze IT-Organisation, jede Applikation muss angeschaut und genau geprüft werden. Die vielen Eigenentwicklungen in der IT-Landschaft von Hermes Germany "Cloud-ready" zu machen, erfordert einen engen Austausch und die Beteiligung einer Menge von Kolleginnen und Kollegen.
Da die Ressourcen in der Cloud mit den Applikations-IDs im EA-Tool getagged sind, können schnell Zuordnungen erfolgen und Redundanzen bei der Anschaffung neuer Services vermieden werden. Besonders wichtig ist dies vor dem Hintergrund, dass gerade im Cloud-Bereich immer mehr Fachbereiche selbst ihre IT-Services einkaufen. Sie können jetzt schnell herausfinden, ob eine benötigte Applikation vielleicht schon im Hause vorhanden ist.
Voraussetzung dafür ist, dass die EA-Lösung genutzt wird. Dass die Strategie der Enterprise-Architekten bei Hermes Germany an dieser Stelle aufgegangen ist, zeigen 750 registrierte Nutzer und die kontinuierliche Zunahme der aktiven Unique User seit März 2018, ihre Anzahl wächst Monat für Monat um zehn Prozent. Die aktive Zusammenarbeit der Stakeholder hat auch entscheidend dazu beigetragen, dass der Anteil der aktiven Applikationen in der Cloud bereits auf 66 Prozent gesteigert werden konnte.
Soziale Netzwerke im Unternehmen schaffen
Wie bereits erwähnt, basiert das gemeinsame EAM-Verständnis bei Hermes Germany auf Integration. Deshalb schaffen die Enterprise-Architekten immer wieder soziale Treffpunkte wie das BBQ & Talk-Event oder auch Workshops, um Fachabteilungen miteinander zu vernetzen. In den von COVID-19 geprägten Monaten tauschten sich die Teams in etlichen virtuellen Treffen aus. Um die Mitarbeiter zur Nutzung des EA-Tools zu motivieren, haben sich auch Wettbewerbe mit spielerischen Elementen bewährt.
Aber natürlich gab es auch Maßnahmen, die weniger gut funktioniert haben. Hier die Strategie anzupassen gelingt nur, wenn es einen offenen Austausch gibt. Der Versuch, über Technologiegilden gemeinsame Entscheidungen zu treffen, stellte sich als zu komplex heraus. Darum setzt das EA-Team inzwischen verstärkt auf das Bauen von Prototypen und bringt sich damit in die Entwicklung ein - wie beim Thema Authentifizierung.
Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung des eigenen Tools "Galapagos", das es ermöglicht, die in Kafka gespeicherten Daten und Ereignisse auch in der EA-Software abzubilden. Das ist ein zukunftsweisendes Projekt, das die ereignisgetriebene Architektur bei Hermes auf einzigartige Weise unterstützt - und das vom Team Open Source zur Verfügung gestellt wird.
Was den Austausch zu konkreten Applikationen betrifft, setzt das EA-Team auf detaillierte Umfragen, um tiefer gehende Informationen zu erhalten und spezifische Anforderungen der Fachabteilungen noch besser kennenzulernen.
Die Architekten stellen auch umfangreiche Reports zu individuellen Use Cases zur Verfügung, laden regelmäßig zu Schulungen ein und haben zahlreiche Leitfäden und Hilfsmittel für den Einsatz der EA-Lösung bei Hermes Germany entwickelt. Vor allem aber hat das Team die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Entwicklung einer gemeinsamen Zukunftsvision für die Unternehmensarchitektur eingebunden und bleibt dazu kontinuierlich im Austausch mit allen Beteiligten.
Enterprise-Architekten müssen sich öffnen
Raus aus der Komfortzone, rein ins Unternehmen: Das Beispiel von Hermes Germany zeigt, was mit der schnellen Implementierung einer EA-Lösung und der kontinuierlichen Einbindung aller Stakeholder erreicht werden kann. Innerhalb kurzer Zeit entsteht eine qualitativ hochwertige Datengrundlage, und das wiederum wirkt sich unmittelbar auf die Zusammenarbeit im Unternehmen aus.
So konnten bei Hermes Germany die Anzahl gemeinsamer Workshops zur Arbeit an kritischen Applikationen verdoppelt und deren Ergebnisse stark verbessert werden - einfach, weil sich der Aufwand für das Vorbereiten und Verwalten der Daten massiv verringert hat. Enterprise-Architekten können in Unternehmen zur zentralen Anlaufstelle werden und echten Mehrwert generieren. Doch dazu müssen sie ihren Elfenbeinturm verlassen und ihr Arbeitsfeld neu denken. (hv)