Alte Schule, neue Denke

Knigge 2.0

28.06.2012
Von Judith-Maria Gillies
Ist Unpünktlichkeit ein Kavaliersdelikt? Zählen Werte wie Höflichkeit und Verlässlichkeit heute nicht mehr? Eine Spurensuche zwischen klassischen Höflichkeitsformen und umtriebigem Web-2.0-Geist bringt überraschende Ergebnisse.

Wenn Gerhard Hastreiter ein Assessment Center veranstaltet, erscheint oft nur die Hälfte der Kandidaten. Der Rest fehlt unentschuldigt. Andere Manager in Hastreiters Lage würden verzweifeln, doch der Fachbereichsleiter IT Customer & Sales bei der Allianz Deutschland in München nicht. "Führungsnachwuchskräfte spüren weniger starke Bindungen als frühere Generationen", sagt er lapidar. "Wer sich in der heutigen Welt des Überflusses an Möglichkeiten zurechtfinden will, muss sich viele Chancen offenhalten."

Leben wir tatsächlich in einer Welt, in der Verlässlichkeit nicht mehr zählt? In der Flexibilität wichtiger ist als Pünktlichkeit? Und wie steht es mit althergebrachten Werten wie Anstand, Zuverlässigkeit und Höflichkeit? Zählen die gar nichts mehr?

Pünktlich und flexibel

Volker Smid, HP: "Werte wie Integrität und Verlässlichkeit sind Bestandteil der Geschäftsgrundsätze"
Volker Smid, HP: "Werte wie Integrität und Verlässlichkeit sind Bestandteil der Geschäftsgrundsätze"

Keineswegs, lautet die einhellige Antwort aus Konzernen und kreativer Klasse. "Werte wie Integrität und Verlässlichkeit sind Bestandteil der Geschäftsgrundsätze", sagt Volker Smid. Der Vorsitzende der Geschäftsführung von Hewlett-Packard in Böblingen verweist auf die Codes of Business Conduct, feste Regeln, "die dafür sorgen sollen, die guten alten Kaufmannstugenden zu erhalten".

Hastreiter stimmt dem HP-Deutschland-Chef zu. "In der beschleunigten Arbeitswelt zählen alte Werte genauso viel wie früher", ist der Fachbereichsleiter der Allianz überzeugt. Allerdings müssten alte Tugenden durch Fähigkeiten wie Flexibilität und Kreativität erweitert werden. Das findet auch Kreativarbeiter Markus Albers, der mehrere Fachbücher über die moderne Arbeitswelt geschrieben hat ("MEconomy", "Morgen komm ich später rein"): "Ohne das Festhalten an alten Werten wie Disziplin, Verlässlichkeit und Pünktlichkeit funktioniert auch die Arbeitswelt des Web 2.0 nicht."

Die neue Formel könnte lauten: alte Schule plus neue Denke. Pünktlichkeit plus Flexibilität. Geradlinigkeit plus Kompromissbereitschaft. Höflichkeit plus Toleranz. Dies zeigt auch eine repräsentative Umfrage-Zeitreihe des Instituts für Demoskopie Allensbach. Höflichkeit, gutes Benehmen und Gewissenhaftigkeit gelten demnach seit Jahrzehnten unverändert als wichtige Erziehungsziele (siehe Grafik "Bescheidenheit ist keine Zier mehr"). Weniger Wert legen moderne Eltern auf die Anpassungsfähigkeit ihrer Kinder in bestehende Ordnungen. Da fiel die Zustimmung von 61 Prozent im Jahr 1967 auf heute 46 Prozent. Auch Bescheidenheit ist keine Zier mehr. Vor mehr als 40 Jahren wollten 37 Prozent der Eltern ihre Kinder zur Zurückhaltung erziehen, heute sind es nur noch 24 Prozent. Auch wenn Höflichkeit und Respekt weiter hoch im Kurs stehen, werden Individualität und Durchsetzungskraft wichtiger.

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