Stress in der Führungsetage
Riskanter Balance-Akt
Alles war in bester Ordnung. Auf dem Frühstückstisch standen wie jeden Morgen zwei, drei Flaschen Bier. Wenn der gewohnte Alkoholpegel erreicht war, ging Jens B.* zur Arbeit. "Das ging sehr gut über lange Zeit", sagt der damals für einen großen Anlagenbauer in China als Projektleiter tätige Elektrotechnik-Ingenieur. 12 bis 14 Flaschen Bier pro Tag waren gerade genug, um das Arbeitspensum von sechs bis sieben Tagen in der Woche und bis zu 300 Stunden pro Monat ertragen zu können. "Ich wusste, dass ich das Projekt nicht fertig bekommen konnte, habe das aber nie angesprochen. Und nach der dritten 'Halben' war es eh egal", so B. Schlafstörungen plagten ihn, und sie nahmen immer mehr zu. "Ich habe dagegen angetrunken, doch es hat nicht funktioniert."
Verleugnete Probleme
Jens B. ging nicht mehr zur Arbeit - aus Scham, dass ihn Kollegen in diesem Zustand sehen würden. "Soziale Kontakte zu Hause waren längst verschütt gegangen." Es folgte Krankmeldung über Krankmeldung, "ein Teufelskreis". Schließlich einigte sich der damals 36-Jährige mit seinem Arbeitgeber über die Auflösung des Arbeitsvertrags. So profan diese Geschichte der Sucht ist - so typisch ist sie für das Management.
"Das Problem in der Führungsetage ist etwas größer als beim Durchschnitt", sagt Rolf Bollmann, "doch es wird um ein Vielfaches mehr verleugnet." Der ehemalige Top-Manager aus der Chemiebranche Bollmann ist seit 13 Jahren trocken. Nachdem er mehrere Jobs verloren hatte, entschied er sich zum Entzug und gründete vor zehn Jahren den Förderverein zur Aufklärung und Beratung von Alkoholkranken FABA (www.faba.de) - "eine Anlaufstation speziell für Führungskräfte", auch für Jens B. Im Top-Management, so schätzt Bollmann, habe jeder Zehnte ein ernstes Alkoholproblem. Alkoholsucht ist nur ein mögliches Ventil, mit dem zunehmenden Druck fertig zu werden, der sich in den Fluren des Top-Managements aufstaut. "Von außen gibt es einen erheblichen Kostendruck, der oft ungesteuert in die IT-Bereiche reingeht", erläutert Norbert Terglane speziell den Notstand der CIOs. Der Leiter des Bereichs Informationsmanagement und Partner bei der Unternehmensberatung Kienbaum entdeckt ein ums andere Mal verzweifelte CIOs, die nicht wissen, wo sie noch sparen sollen und zugeben müssen: "Ich habe nichts anderes in der Hand als einen Rasenmäher."
Psychischer Druck, Terminhetze, Arbeitsintensität und Verantwortung hätten in rund 90 Prozent der Betriebe in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren zugenommen - so die Ergebnisse einer Befragung von über 3500 Betriebs- und Personalräten in Deutschland durch das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung. 55 Prozent der IT-Verantwortlichen, so die Ergebnisse einer Befragung des Londoner Personalberatungsunternehmens Chartered Management Institute unter knapp 1600 Führungskräften in Großbritannien, hielten sich für überlastet - über 40 Prozent der Befragten bei Arbeitszeiten von täglich mindestens 14 Stunden. 81 Prozent der Führungskräfte stehen nach einer Umfrage der Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft unter 287 Managern zu stark unter Druck, um ihren Aufgaben der PersonalführungPersonalführung hinreichend nachgehen zu können, über 86 Prozent stehen zu sehr unter Erfolgs-, 78 Prozent zu sehr unter Zeitdruck. Die Liste der Statistiken und Untersuchungen ließe sich endlos fortführen. Alles zu Personalführung auf CIO.de
Nur auf expandierende Märkte vorbereitet
Ulrich Friedhoff, Seminarleiter bei der Akademie, sieht die Ursache darin, dass Manager mit sich selbst nicht im Reinen seien: "Sie müssen mit dem Widerspruch umgehen, zwar eine menschlich und ethisch gesehen saubere Führungskultur zu haben, dann aber plötzlich Leute entlassen zu müssen." Im Psychologendeutsch heißt das: Nur wenige besitzen Paradoxie-Kompentenz. Oder wie es Hans Rudolf Jost, Chef der auf Veränderungsprozesse im Unternehmen spezialisierten Change Factory in Zürich formuliert: "Führungskräfte sind oft Schönwetter-Kapitäne. Schon in der Ausbildung konzentriert man sich lediglich auf expandierende Märkte." Friedhoff wittert in dieser Situation Morgenluft für sein Weiterbildungsprogramm. Seminare für Persönlichkeitsentwicklung und Work-Life-Balance bis hin zum Coaching stehen derzeit hoch im Kurs. Eine Befragung des Weiterbildungsinstituts Managerseminare in Bonn gibt ihm Recht: Themen zu Stressbewältigung (+325 Prozent) und Coaching (+162 Prozent) sollen künftig besonders gefragt sein. So gesehen war Friedhoff selbst eine Art Vorreiter, als er sich nach zwölf Jahren im Vertrieb und Marketing, zuletzt als Vertriebsleiter im IT-Business der New Economy, für ein Sabattical entschied und während dieser Zeit eine Ausbildung zum Coach und systemischen Berater machte.