Die Lessons Learned
Supply-Chain-Großprojekt bei Infineon
Vor gerade einmal fünf Jahren hing ein großes Damoklesschwert über dem Chip-Hersteller Infineon Technologies: "Zuerst kam ein extremer Abschwung der Nachfrage, anschließend folgte ein extremer Aufschwung", erinnert sich Robert Leindl, heute CIO des DAX-Konzerns. Das Problem: "Beide Spitzen haben wir in ihren gesamten Auswirkungen überhaupt nicht vorhersagen können." Infineon musste dringend handeln und die Supply Chain straffen, um den Absatz enger mit der Versorgung zusammenzubringen und schneller auf Marktänderungen reagieren zu können. "'Lean Planning' war der Name des Großprojekts", sagt Leindl, "und wir wollten die Glaskugel durch eine fundierte Analyse ersetzen - das war der Beginn einer zweijährigen Reise."
Vor der IT lag ein Trip mit vielen Stolpersteinen: Die Halbleiterproduktion bei Infineon hat typische Durchlaufzeiten von vier Monaten, Investitionen in die Kapazität dauern 18 bis 24 Monate, und die Kunden genießen eine taggenaue Anlieferung. Das passt nicht wirklich zusammen - wenn die Produktion geplant wird, ist nur bedingt bekannt, was die Kunden letztlich konkret benötigen. Hinzu kommt: "Der Kapitaleinsatz unserer Branche liegt typischerweise bei rund 15 Prozent", erläutert Leindl. Bei vier Milliarden Euro Umsatz stecken etwa 600 Millionen Euro in der unternehmensinternen Produktionskette. Damit die Rechnung aufgeht, müssen Maschinen wie Ätzer, Belichter oder Prüftechnik "geladen" sein: "Eine Größenordnung von 85 Prozent der vorhandenen Kapazität ist die untere Grenze - sonst lohnt sich die Sache nicht." Folglich muss die Nachfrage mit der vorgehaltenen Fertigungskapazität und der tatsächlich eingesteuerten Produktion in Einklang gebracht werden.
Mit der hohen SCM-Komplexität sind die Halbleiterbranche und damit auch Infineon sicherlich eine Ausnahme, was auch die Laufzeit des Projektes von 2010 bis 2013 erklärt. Grundsätzlich stehen aber viele Unternehmen anderer Branchen vor einer ähnlichen Herausforderung: die eigene Lieferkette zu optimieren und die Wirtschaftlichkeit sowie die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Dass sich der Markt für SCM derzeit dynamisch entwickelt, bestätigen auch die Analysen von Gartner. Laut einer aktuellen Prognose des IT-Research- und Beratungsunternehmens steuert der Umsatz mit SCM-Software im laufenden Jahr auf ein Volumen von über zehn Milliarden Dollar zu. Dies entspricht einem Anstieg um 12,2 Prozent gegenüber 2013. "Sowohl der Bereich Supply Chain Execution als auch das Segment Supply Chain Planning werden 2014 zweistellig zulegen", berichtet Gartner-Analyst Chad Eschinger.
SCM-Technologie-Plattform
Dabei nähert sich der SCM-Markt dem Punkt, an dem mehr als 60 Prozent der Einnahmen von bestehenden Implementierungen herrühren. Demgegenüber stammten im Jahr 2013 nur noch rund 16 Prozent der SCM-Ausgaben von Unternehmen, die erstmalig in eine SCM-Lösung investiert haben. Erkennbar ist auch der Trend, dass Organisationen zunehmend auf eine einheitliche SCM-Technologie-Plattform setzen: Hierdurch sollen die Integration erleichtert sowie die Zusammenarbeit mit Kunden und Lieferanten effizienter gestaltet werden. Bis 2018, so schätzt Gartner, verfolgen fast 70 Prozent der Unternehmen eine Single-Plattform-Strategie auf Basis einer einheitlichen Architektur, um die Transparenz in der Lieferkette zu verbessern.
Somit ist Infineon Vorreiter einer Entwicklung, auch weil die gut geplante Supply ChainSupply Chain zu den Kernkompetenzen des Konzerns zählt. Schließlich ist der Planungspuffer der einstigen Siemens-Sparte dünn wie ein Wafer: "Wir können nicht einfach Extraschichten am Wochenende einlegen, um auf spontane Kundenwünsche zu reagieren, denn wir arbeiten ohnehin schon 24 mal 7 mal 365", berichtet CIO Leindl. "Mit etwas Glück" seien es auch nur 364 Tage, die übrigen Stunden werden dann in den Fabriken für Wartungsaufgaben genutzt. Die Verfügbarkeit der IT-Systeme für die Produktionsanlagen muss mindestens 99 Prozent betragen, sagt Leindl, zudem sind verschiedene Produktionsstätten, die jeweils unterschiedlichste Produkte fertigen, und externe Dienstleister in die Lieferkette integriert: "Da sieht man, was die Planungssysteme leisten müssen und was wir mit dem Projekt 'Lean Planning' erreichen wollten." Alles zu Supply Chain auf CIO.de
Marketing, Vertrieb und SCM
"Schlanker" musste die Planung werden, was in diesem Fall erst einmal bedeutete, die gewachsenen Systeme durch eine einheitliche Plattform abzulösen und zu integrieren. "Früher hatten wir einen harten Systembruch, denn Marketing und Sales liefen in halbgetrennten Welten, und SCM arbeitete wiederum auf der Software eines anderen Herstellers." An diesen heterogenen Kern waren mehr als ein Dutzend mittelgroßer, selbstgestrickter Lösungen angeflanscht, und die US-Niederlassung schaute in eine eigene Kristallkugel. "Das System war relativ träge und nicht wirklich transparent", räumt der CIO ein. Heute sind die Marketing-, Vertriebs- und Supply-Chain-Planung weltweit in einer Lösung abgebildet. Mit Folgen: "Alle Satellitenprogramme sind inzwischen verglüht, und wir haben unseren Planungszyklus erheblich verkürzt, die Transparenz sowie die Qualität enorm verbessert, und wir sparen Zeit bei der täglichen Arbeit."
Um die Nutzer für die Lösung zu begeistern und auf die neue Plattform zu ziehen, war ein gutes User Interface notwendig, argumentiert Leindl: "Die Software sieht ein wenig wie Excel aus - die Anwender kennen und mögen das." So war der Umstieg auf die neue Marketing-Planung prompt einen Monat früher abgeschlossen als vorgesehen. In der Rollout-Phase für die Vertriebskomponente konnte darüber hinaus jeder Sales-Planer für seine Kunden entscheiden, wann der Schalter zum neuen Tool umgelegt werden sollte. "Diese Idee eines unserer IT-Mitarbeiter hat uns den Rollout sehr erleichtert."
Die Basis der neuen Software stammt von der Firma JDA, deren SCM-Applikationen einst auch unter der 2010 zugekauften New-Economy-Marke i2 bekannt waren und die in der Halbleiterbranche weit verbreitet sind. "Allerdings hatten alle Fachbereiche die i2-Implementierung bei Infineon mit eigenentwickelten Modifikationen und Programmen ergänzt, weshalb es keine echte Best-Practice-Lösung gab, von der wir große Teile übernehmen konnten." Das Dilemma ebnete den Weg für Leindls Vision, zusammen mit dem Softwarehersteller eine Musterlösung zu entwickeln: "Wir brachten Reputation und Erfahrungen in der Halbleiterbranche ein, JDA ist sehr gut in Fragen der Supply Chain, und zusammen entwickeln wir die Best Practice der Branche." Den Betrieb der Software leistet die Firma Tata Consultancy Services (TCS), die bereits Partner der alten JDA-Lösung sowie im Projekt beratend tätig waren.
Das Modell des "Joint Developments" sieht vor, dass sich die Partner den Aufwand für die "Individualsoftware" teilen und das Ergebnis anschließend auf dem freien Markt angeboten wird. "Die Welt bleibt nicht stehen, und wir wollen von der kontinuierlichen Dynamik und Weiterentwicklung durch andere Anwender profitieren, um nicht immer alle Veränderungen selbst tragen zu müssen", sagt der IT-Manager. Dass Konkurrenten von der Infineon-Intelligenz profitieren könnten, sei einkalkuliert worden - ein Prozess des Gebens und Nehmens. "Wir haben unsere Anforderungen im Produkt sehr genau abgebildet, sind bereits live und profitieren künftig von den kürzeren Innovationszyklen." Eine rein proprietäre Lösung sei laut Leindl auf Dauer für Anbieter und Anwender nur wenig sinnvoll, die Ära der Abschottung vorbei.
Second Sources sind selten
Dabei hat auch die Offenheit des CIOs Grenzen. Zwar habe die IT eine Cloud-Lösung von JDA für erste Tests genutzt, die finale Plattform sei aber "Company Confidential", weshalb alle Daten on-premise (intern) gehalten werden. "Schließlich greift die Lösung in alle wichtigen Unternehmensbereiche ein, die Geld verdienen", argumentiert Leindl. Für Infineon sei die Software der wirtschaftliche Kern - Fehler in der Planung können einzelne Kunden massiv Geschäft kosten oder sie sogar an den Rand des Ruins treiben. "Die Produkte, die wir heute herstellen, sind oft nicht mehr rasch ersetzbar, und wenn sich ein Kunde für uns entschieden hat, müssen wir auch liefern." Da es nur in wenigen Bereichen echte Second Sources für die Abnehmer gibt, sei die Verantwortung des Münchener Unternehmens äußerst hoch. Wurde hingegen zu viel Kapazität eingeplant, können die Leerstandskosten das Infineon-Ergebnis ruinieren, wie im Jahr des Abschwungs 2009.
Heute beginnt die Planung bei der Erhebung der Nachfrage, erstreckt sich über die Daten der externen Zulieferer von Rohmaterialien und berücksichtigt die Fertigungskapazität bis zur Verteilung der "Last" auf die einzelnen Fabriken. Die Informationen stützen die Entscheidung, ob Infineon weitere Partner benötigt, mehr Kapazitäten dazubuchen muss oder die eigene Kapazität ausbaut. Wenn ein Kunde eine Variante seiner Chips plötzlich nicht mehr in vollem Umfang abnimmt, werden die dafür reservierten Kapazitäten und Bestände freigegeben. Das Produktionsprogramm rechnet daraufhin neu durch und veranlasst alle notwendigen Aktionen. Bei einer Durchlaufzeit von bis zu vier Monaten werden die frei werdenden Kapazitäten für Produkte anderer Kunden übernommen, deren Aufträge zwar schon platziert, aber noch nicht bestätigt sind.
Einzelne Finanzkennzahlen wie Preise, Währungen und die Umsatzplanung sind - neben Stückzahlen und Informationen zu Regionen und Kunden - bereits im System enthalten. "Wir arbeiten jedoch daran, eine stärkere Kopplung in der Finanzwelt vom echten finanziellen Forecast bis zu What-If-Analysen zu schaffen", sagt Leindl. Die Simulation ist ein wichtiger Schritt in die Zukunft: Was bedeutet es etwa für die Chip-Kosten, wenn die Fabrik nicht ganz ausgelastet ist? "Damit können die Verantwortlichen durchspielen, was passiert, wenn das Marktwachstum nur flach verläuft oder doppelt so hoch ausfällt wie geplant." Leindl zufolge sollen sie ein Gefühl kriegen für Investitionen und Leerstandskosten. "Inhaltlich ist das Management der kompletten Supply-Chain ein Differenzierungsfaktor, und in der gesamten Kette von Produktion und Supply Chain kann man in Bezug auf Performance sowie Effizienz viel holen - oder verlieren."
"Industrie 4.0" - zu früh
Auch wenn die Lösung fortschrittlich und die Produktion von Infineon fast vollständig digitalisiert sowie automatisiert ist - bei der Frage nach "IndustrieIndustrie 4.0" gibt sich Leindl zurückhaltend. Zwar würden heute schon Unmengen an Daten anfallen, und nahezu jede Fertigungsanlage für Chips oder Gehäuse sei am Netz. Auf Basis dieser Informationen steuere das zentrale Manufacturing Execution System (MES) die Belegungspläne der Maschinen, wobei Durchsatz, Qualität und Last beziehungsweise Nutzbarkeit des Maschinenparks Entscheidungsfaktoren sind. Grundlage bilden hinterlegte Arbeitspläne. "Aufgrund dieser zentralen Steuerung", so der IT-Leiter, "sprechen wir auch nicht gerne von Industrie 4.0." Schließlich sei man von einer wie auch immer gearteten Selbstorganisation der Produktionsmittel weit entfernt. Top-Firmen der Branche Industrie
Dabei gibt es "erste Ansätze von lokaler Intelligenz", berichtet Leindl aus der Praxis. "Wenn ein Los mit Wafern in der falschen Sequenz ankommt oder gesperrt ist, wird es von der Maschine nicht eingebucht, sondern abgelehnt." In diesem Fall würde der Fehler manuell behoben - "ein klassischer Fail-Safe-Mechanismus, mehr nicht." Immerhin sei die Maschine so intelligent, dass sie beim nächsten Wafer-Los ein anderes "Rezept", also die Fertigungsanleitung für einen anderen Chip, anfordern und hochladen kann.
Zentrale Steuerung kein Mantra
Dabei ist Leindl kein Gegner von Industrie 4.0, sondern schlicht pragmatisch. "Die zentrale Steuerung ist zurzeit die beste Lösung für uns, aber sie ist kein Mantra." Für das aktuelle Modell würden Vorteile bei Skaleneffekten, der Effizienz und dem Know-how sprechen. Allerdings bedeute dies auch, die IT nah an das Geschäft heranzubringen: "Da hatten wir über die Jahre ein bisschen Nähe verloren und zu viel Fachkompetenz bei den Service-Providern gelassen", gibt Leindl zu. Um gegenzusteuern, wurde zielgerichtet Know-how über die Kernthemen der Systemarchitektur und die Geschäftsprozesse eingekauft, im Gegenzug sollen IT-Mitarbeiter stärker in andere Bereiche des Konzerns wechseln. "Die Silos müssen wir aktiv öffnen, sonst funktioniert es nicht."
Leindl muss es wissen, denn er hat schon den globalen Distributionsvertrieb geleitet, war im Automotive-Bereich von Infineon für die weltweite Supply Chain verantwortlich und davor im Marketing und in der Qualitätsabteilung tätig. "Brücken zu schlagen fällt einem leichter, wenn man weiß, was auf der anderen Seite ist."
SCM: Lessons Learned bei Lean Planning
1. Der Antrieb für ein derartiges Projekt muss aus dem Top-Management kommen. Neben dem nötigen Druck ist auch die zugestandene Zeit wichtig, um die komplexe Aufgabe zu bewältigen.
2. Das mittlere Management muss den Wandel mittragen. Mit speziellen Kommunikationsmaßnahmen wurden etwa die Vorteile für die jeweilige Organisationseinheit erläutert. Eine enge Verzahnung von Business und IT ist zudem zwingend erforderlich für den Erfolg.
3. Entscheidend ist ein gutes User Interface (UI), um die Anwender auf die neuen ToolsTools zu ziehen. Dann muss die IT nicht schieben. Das Thema UI wird für IT-Organisationen immer wichtiger. Alles zu Tools auf CIO.de
4. Viele Insellösungen und "Sonderlocken" bremsen das Tempo und steigern den Aufwand. Man wird bei Innovationszyklen abgehängt und fällt zurück.
5. Allerdings darf die IT-Abteilung den Fachbereichen nicht mit der Cloud-Keule drohen - "keine Anpassungen mehr". Der CIO muss die Fachbereiche mit rationalen Argumenten davon überzeugen, dass schlank auch sinnvoll ist.
Unternehmen: Infineon Umsatz: 3.843 Millionen Euro (für GJ 12/13) Mitarbeiter: 26.725 IT-Kennzahlen IT-Mitarbeiter: 738 IT-Budget: weniger als vier Prozent vom Umsatz IT-Töchter: Infineon Technologies IT-Services GmbH (Klagenfurt) Projekt Lean Planning Aufwand: etwa 8,3 Millionen Euro Produkte: JDA S&OP, Net/C#, MS SSAS Dienstleister: Tata Consultancy Services |