Geschäftsmodelle
Wie man Risiken digitaler Disruption einschätzt
- Bei Dienstleistungen spielen Verfügbarkeit und die reale Kontaktwahrscheinlichkeit wichtigen rollen bei der Bewertung des Risikos.
- Bei Gebrauchsgütern hängt das Risikopotenzial davon ab, wie oft sie genutzt werden.
- Es stellt sich nicht die Frage, "ob" ein Geschäftsmodell gefährdet ist, sondern "wie stark" es bedroht ist.
Vom Global Center for Digital Business Transformation der Wirtschaftshochschule IMD, Lausanne, stammt ursprünglich die Idee, in Form eines Strudels zu visualisieren, wie stark und wie schnell verschiedene Branchen von Digitaler Disruption betroffen sind. Cassini Consulting hat nun 15 Branchen hinsichtlich ihrer Gefährdung durch Digitale Disruption bewertet und Fallbeispiele zu jeder Branche erstellt. Je näher eine Branche an die Mitte des Strudels heranrückt, desto gravierender die aktuellen Effekte der Digitalen Disruption.
Schnell im Zentrum des digitalen Strudels
Es ist allerdings wichtig, den disruptiven Strudel nicht als stetige Linie misszuverstehen: Es gibt hier keinen klar vorgegebenen, deterministischen Weg für eine Branche. Den Sog der Digitalen Disruption kennzeichnet vielmehr, dass er chaotisch ist. Eine Branche, die man heute noch am vermeintlich sicheren Rand verorten würde, könnten externe Einflüsse sehr leicht ins Zentrum des Sogs spülen.
Betrachtet man einen Mischkonzern, empfiehlt es sich, die Risikobewertung entweder für jede Business Unit einzeln durchzuführen oder die gesamte Unternehmung derjenigen Branche zuzuschlagen, in der sie den größten Teil ihrer Rendite (nicht ihres Umsatzes!) erzielt. Es lohnt, beispielhaft auf einige der in unserem Modell behandelten 15 Branchen näher einzugehen.
Branche 1: Technologie
Technologiekonzerne sind durch die diversen Treiber der Disruption am meisten beeinflusst. Der Endgerätemarkt belegt, wie schnell sich technologische Disruption vollziehen kann: Nokia war lange der nahezu unangefochtene Weltmarktführer für Mobiltelefone - bis Smartphones die herkömmlichen Mobiltelefone verdrängten.
Branche 4: Banken und Versicherungen
Gesetzliche Vorschriften erschweren es zwar, in den Banken- und Versicherungsmarkt einzudringen, doch einige Marktbegleiter greifen die klassischen Geschäftsmodelle bereits an. Wenn Konsumenten Online-Kreditvergleichsportale wie Smava oder Check24 nutzen, müssen sie auf der Suche nach den besten Konditionen keine Termine mit unterschiedlichen Bankberatern oder Versicherungsmaklern mehr machen.
Branche 7: Tourismus
Digitale Geschäftsmodelle haben auch die Tourismusbranche in den letzten Jahren verändert. Viele Konsumenten ziehen Online-Reiseplattformen bereits den Reisebüros vor. So kann ein Konsument etwa auf kayak.de Flüge vergleichen und buchen, auf billiger-mietwagen.de Mietwagen und auf trivago.de Hotels.
Branche 8: Gebrauchsgüter
Sogar der Markt für Gebrauchsgüter - Produkte, die über einen längeren Zeitraum hinweg mehrmals genutzt werden - sieht sich unter disruptivem Druck. Denn die sogenannte Shareconomy gewinnt an Boden, gerade im privaten Umfeld. In Metropolen sind B2C-Mobilitätsangebote für Autos oder Fahrräder etabliert, und auf Sharing-Plattformen lassen sich im C2C-Modell stundenweise Dinge wie Werkzeuge oder Privatparkplätze mieten und vermieten.
Branche 10: Pharmazie & Gesundheitswesen
Digitale Geschäftsmodelle werden die Medizin nicht völlig verdrängen. Aber es dürfte in Zukunft wohl neue medizinische Lösungen wie intelligente Insulin-Spritzen, maßgeschneiderte Zahnersatzteile oder Prothesen aus dem 3D-Drucker geben. All diese digitalisierten Produkte erfüllen aufgrund autonomer Messungen nicht nur den exakten Bedarf des Patienten, sie übertragen auch relevante Daten an Ärzte oder Hersteller.
Branche 15: Dienstleistung und Consulting
In dieser Branche finden sich Berufe wie Steuerberater, Rechtsanwalt oder Unternehmensberater. Diese Tätigkeiten sind häufig gesetzlich reguliert und haben in den meisten Fällen individuellen Charakter - was das Potenzial einer Digitalen Disruption reduziert. Dennoch gibt es auch hier schon Digitalisierungsansätze, etwa Online-Plattformen, die ihren Besuchern die Möglichkeit einer - unverbindlichen - anwaltlichen Erstberatung eröffnen (frag-einen-anwalt.de).
Den Nutzen des Gewerks wirklich verstehen
Die DigitalisierungDigitalisierung lässt sich nicht aufhalten. Stattdessen sollte sich jedes Unternehmen proaktiv den damit verbundenen Herausforderungen stellen und die Chancen ergreifen, die damit ebenfalls verbunden sind. Zunächst geht es aber darum, durch gezielte Analysen das Gefährdungspotenzial für das eigene Unternehmen einzuschätzen. Entscheidend für die Bewertung der Bedrohung eines Unternehmens oder Unternehmensteils in einer bestimmten Branche ist natürlich auch die Analyse des angebotenen Produkts. Hierbei sind Genauigkeit und ein analytisches Verständnis gefragt. Denn häufig wissen Unternehmen gar nicht, was ihr Produkt eigentlich ist. Alles zu Digitalisierung auf CIO.de
Wenn man zum Beispiel einen Mitarbeiter aus der Giroabteilung einer Bank fragt, was denn sein Hauptprodukt sei, wird er vielleicht antworten: "Wir bieten unseren Kunden ausgezeichnete Girokonten mit niedrigen Gebühren an." Da Girokonten zum Bankwesen gehören, das in Deutschland durch die BaFin reguliert ist - was einem Disruptor den Markteintritt erschwert -, könnte man zu dem Schluss kommen, es sei nichts zu befürchten.
Formuliert man jedoch den Kundennutzen als eigentlichen Kern des Angebots, ergibt sich z. B. solch ein Satz: "Wir bieten unseren Kunden die Möglichkeit, Geld zu empfangen und an beliebige Personen, die ein Konto besitzen, weiterzusenden." Dies erinnert bereits fatal an Angebote von Firmen wie PayPal oder Skrill - sie bieten einen ähnlichen Service, ohne dass ein Konto für dessen Nutzung nötig wäre. Auch unterliegt ein Service zum Versenden von Geld keiner BaFin-Regulierung. Aus einem Szenario ohne jede Gefährdung wird so auf einmal eine bedrohliche Lage für das angebotene Produkt.
Bewertung der Produkte und Dienstleistungen
Es ist sinnvoll, bei der Bewertung des Gewerks zwischen Produkten und Dienstleistungen zu unterscheiden. Bietet ein Unternehmen sowohl Produkte als auch Dienstleistungen an, sollten sie getrennt voneinander bewertet werden. Die folgenden vier Thesen gelten jedoch für beide Gewerkformen.
1. Komplexität
Je komplexer Produkt oder Dienstleistung sind, desto niedriger ist die Gefährdung einer Digitalen Disruption. Besteht z. B. der Herstellungsprozess eines Produkts aus mehreren Schritten, bei denen verschiedene Komponenten eingesetzt werden und für die Spezialwissen nötig ist, ist das Produkt schwieriger zu kopieren. Ähnliches gilt für hochspezialisierte Dienstleistungen, etwa für die Hirnchirurgie.
2. Individualität
Je individueller ein Produkt gefertigt oder eine Dienstleistung erbracht wird, desto niedriger ist in der Regel die Gefahr einer Digitalen Disruption. Denn ein individuelles Angebot ist schwieriger zu kopieren und zu digitalisieren. Disruptoren werden hier eher auf den Massenmarkt zielen, wobei es Ausnahmen zur Regel gibt.
3. Digitalisierbarkeit
Lässt sich ein Produkt/eine Dienstleistung dagegen leicht digitalisieren, ist auch die Gefahr der Digitalen Disruption höher. Liegt das Produkt bereits in einem Herstellungsschritt digital vor und wird anschließend physisch produziert, dann existiert bereits ein Digitalisierungsansatz. So erscheinen Filme anstatt auf physischen Medien auf Streaming-Plattformen, und Autoersatzteile aus CAD-Programmen könnten zukünftig nicht mehr die Autozulieferer, sondern die Werkstätten erstellen - im 3D-Drucker.
4. Regulierung
Produkte oder Dienstleistungen, die einer bestimmten Regulierung unterliegen, genießen einen besonderen Schutz und sind damit schwieriger zu kopieren und zu digitalisieren. Medizinische Präparate etwa unterliegen der strengen Arzneimittelzulassung - neuartige Ansätze aus Genetik und Nanotechnologie müssen diese Hürde erst noch nehmen.
Risikokriterien speziell für Dienstleistungen
Um speziell für Dienstleistungen das Potenzial einer disruptiven Gefährdung zu bestimmen, spielen weitere Faktoren eine Rolle: die Verfügbarkeit und die reale Kontaktwahrscheinlichkeit.
Verfügbarkeit
Je höher die Verfügbarkeit einer Dienstleistung, desto höher ist die Gefahr Digitaler Disruption. Beispiel Übernachtung: Hotels wissen, dass es einen Bedarf an Übernachtungsmöglichkeiten gibt. Airbnb hat erkannt, dass auch eine hohe Verfügbarkeit nicht genutzter Privatzimmer existiert. Indem Airbnb Angebot und Bedarf auf seiner Plattform zusammenbringt, hat es ein digitales Geschäftsmodell geschaffen, das Hotels ernste Konkurrenz macht.
Realer Kundenkontakt
Je unmittelbarer eine Dienstleistung im direkten Kundenkontakt erbracht wird, desto niedriger ist die Wahrscheinlichkeit einer Digitalen Disruption. Dies gilt sowohl für Dienstleistungen, die direkt am Körper der Kunden erfolgen (Operieren, Frisieren, Tätowieren), als auch für soziale Tätigkeiten wie die des Altenpflegers, in der die Interaktion mit den Betreuten eine zentrale Rolle spielt.
Risikokriterien speziell für Produkte
Gebrauchsgüter sind Produkte, die mehrmals über einen längeren Zeitraum genutzt werden. Dazu zählen sowohl Produkte für Konsumenten wie Autos als auch gewerbliche Gebrauchsgüter wie Mähdrescher. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die helfen, das Disruptionspotenzial für Verbrauchsgüter zu bestimmen.
Nutzungsgrad
Je seltener ein Produkt genutzt wird, desto höher ist wegen seiner prinzipiellen Verfügbarkeit die disruptive Gefahr. Dies gilt für physische Produkte wie leerstehenden Wohnraum, Fahrzeuge, Werkzeuge und Maschinen, aber auch für digitale Produkte wie Filme oder Musik, die durch mehrere Personen genutzt werden können.
Sharing
Handelt es sich um ein selten genutztes physisches Produkt, ist die Gefahr einer Disruption durch Sharing-Modelle höher. Ein Sharing-Ansatz ermöglicht die exklusive Nutzung eines Produkts durch mehrere Parteien. Beispiele hierfür sind Fahrzeug-Dienste wie car2go, der Verleih von Werkzeugen in Baumärkten oder die Bereitstellung eines Mähdreschers zur Feldernte. Auf Basis einer digitalen Plattform kann so für den Hersteller aus dem Produktgeschäft ein Dienstleistungsgeschäft werden - oder aber der Hersteller wird selbst zum Vermittler zwischen Angebot und Nachfrage. Auch digitale Produkte können für Sharing anfällig sein.
Streaming
Handelt es sich um ein digitales Produkt, das selten genutzt wird, ist die Disruptions-Gefahr durch Streaming-Modelle hoch. Ein Streaming-Ansatz ermöglicht die simultane Nutzung eines Produkts durch mehrere Parteien. Beispiele hierfür sind Streaming-Dienste wie Netflix für Filme und Serien oder Spotify für Musik. Liegt ein physisches Produkt in einem Erstellungsschritt bereits in digitaler Form vor, ist zu prüfen, ob für den Anbieter ein Streaming-Ansatz sinnvoll sein könnte.
Analyse externer Einflussfaktoren
Auch die Bewertung makro- und mikroökonomischer Einflussfaktoren ist für die Gefährdungsanalyse von Bedeutung. Dabei geht es nicht um das Wie hinsichtlich des Geschäftsmodells eines Unternehmens bzw. seiner Branche. Wichtig ist zu ermitteln, wie stark ein Unternehmen von einer Disruption in seinem Marktsegment betroffen wäre und wieviel Zeit es hat, auf eine neue Lage zu reagieren, bevor es in eine möglicherweise fatale Schieflage geriete. Ein wesentlicher Aspekt könnte auch die eigene Position in der Wertschöpfungskette sein: Was, wenn ein Zulieferer sein Geschäftsmodell ändert?
Fazit: Der eigene Disruptor werden
Um die konkrete Gefährdung eines Unternehmens durch eine mögliche Digitale Disruption einschätzen zu können, ist es also sinnvoll, das Gefahrenpotenzial in vier verschiedenen Dimensionen zu untersuchen: im Hinblick auf die Branche, auf das Gewerk, auf die makro- und auf die mikroökonomische Situation.
Noch haben viele Unternehmen die Wahl, entweder selbst auf der Digitalisierungswelle zu reiten oder früher oder später von ihr fortgetragen zu werden. Selbst Unternehmen, die sich bereits digitalisiert haben, können sich nicht sicher sein, nicht von der nächsten Welle erfasst zu werden. Unternehmen sollten darum versuchen, sich neue Standbeine zu schaffen und ihr eigener Disruptor zu werden.