Autisten im Beruf
Der etwas andere Kollege
Schmidt geht heute offen mit seiner Diagnose um, er hat nicht nur ein Buch über seine Probleme am Arbeitsplatz geschrieben ("Kein Anschluss unter diesem Kollegen"), sondern hält auch regelmäßig Vorträge zu dem Thema - auch im Ausland. Anders als Schmidt traut sich aber nicht jeder Autist, sich öffentlich zu outen. Oder auch nur vor dem Arbeitgeber.
"Die Dinge hatten plötzlich ihren Platz"
Ein Beispiel dafür ist Maurice Stiller. Für diesen Artikel hat der Diplom-Psychologe ein Synonym gewählt. Stiller arbeitet für ein Versicherungsunternehmen und berät dort Führungskräfte. Sein Spezialinteresse: Menschen und Worte. Er weiß seit 2011, dass er Autist ist. "Die Dinge hatten plötzlich ihren Platz", sagt er und malt mit seinen Händen ein Rechteck in die Luft. Wenn er redet, guckt er am Gesprächspartner vorbei. Er selbst erklärt, dass es ihn viel Kraft koste, Blickkontakt herzustellen. Wenn er jemandem ins Gesicht schaue, sehe er deshalb immer auf die Nasenwurzel. Durch die Diagnose hat er sich aber ein "autistisches Leben" aufbauen können: Er erlaubt sich nun beispielsweise, den Blickkontakt bewusst zu meiden.
Obwohl die Diagnose ihm geholfen hat, will er seinen Kollegen und Vorgesetzten nicht davon erzählen. "Ich habe die Furcht, dass der Vorstand das erfährt und mich aus wirtschaftlichen Gründen in einem anderen Bereich einsetzt", sagt er. Für ihn wäre das auch deshalb schwierig, weil er, anders als andere Autisten, "an Detailarbeit kaputt" geht. Stiller hat oft den Arbeitsplatz verloren, "weil ich anders war", wie er erzählt. Er sei nie wegen seiner fachlichen Leistung gekündigt worden, sondern deshalb, weil er Menschen auf die Füße trete, dies aber nicht merke. "Ich bin zu alt, um am ersten Arbeitsmarkt noch einmal eine ähnlich gutbezahlte Position zu finden", sagt er. Auch wenn Stiller selbst sagt, dass ihn Menschen interessieren, ist es anstrengend für ihn, mit ihnen umzugehen. "Ich weiß nicht, ob ich bis zur Rente durchhalte", sagt er offen.
Er wünscht sich vor allem eines: mehr Toleranz. Bei seinem Vortrag in Köln schafft er es durch einen Kniff, dass sich die Zuschauer in die Rolle von Autisten versetzen müssen. Statt über die Probleme eines Autisten im Job zu reden, stellt er das "neurotypische Syndrom" vor - also Menschen, die nicht vom Autismus betroffen sind - und redet darüber genauso, wie Experten über Autismus sprechen: von einer Störung.
Er nimmt als Beispiel, wie der Neurotypische etwa Kaffeepausen während der Arbeitszeit mache (obwohl er nicht dafür bezahlt wird), wie er emotionale Nähe zu Kollegen suche (obwohl er nicht dafür bezahlt wird), wie er über belangloses Zeug wie das Wetter rede statt über die Arbeit (obwohl er nicht dafür bezahlt wird). Er lässt die Zuhörer aus der Sicht des Autisten die Welt bestaunen. Und wirft damit die Frage auf, ob Unternehmen nicht viel besser daran täten, nur noch Autisten zu beschäftigen. (Handelsblatt)