Digitalisierung und die Folgen
So gelingt die Transformation der IT
- Outside-in-Denken bedeutet einen Kulturwandel: Nur der Kunde steht im Fokus
- Bei der Two-Speed-IT gibt es keine Zweiklassen-Gesellschaft; Mitarbeiterrotation kann helfen
- In Sprint-Projekten geht es um exploratives, Prototyp-getriebenes Arbeiten
- Bei der IT-Bebauung müssen Leitplanken für die Einbindung neuer Systeme definiert werden
Durch die DigitalisierungDigitalisierung sind vormals IT-ferne Geschäftsmodelle zunehmend IT-getrieben. Digitale Lösungen entwickeln sich mehr und mehr zum Kerngeschäft. Neue, teils branchenfremde Wettbewerber treten in die eigenen Märkte ein, teilweise mit ganz neuen Geschäftsmodellen. Daten gewinnen eine immer größere Bedeutung - gleichzeitig muss die entstehende Informationsflut auch bewältigt werden. Alles zu Digitalisierung auf CIO.de
Den Komfort, den Konsumenten von der Nutzung privater Endgeräte und öffentlicher Web-Angebote her kennen, erwarten sie auch von der Corporate-IT. Die Anforderungen an Produkte verändern sich. Und je größer die Nähe zum Endkunden, desto höher ist auch der Anspruch an Schnelligkeit. Branchenvorreiter und Newcomer rollen im Stundentakt neue Features aus, steuern laufend mit Erkenntnissen aus dem Nutzer-Monitoring nach und richten sich mit agilen Methoden in einer völlig neuen IT-Welt ein.
Diese Beschleunigung beflügelt viele IT-Verantwortliche. Andere hinterlässt sie ratlos. Sollen sie nachziehen und ihre IT-Organisation "agilisieren"? Oder doch anderen den Vortritt lassen? Die hohe Geschwindigkeit soll ihre IT-Organisation handlungsfähig machen. Doch was bedeutet das für die Steuerbarkeit der Organisation? Was heißt es für die Stabilität und Sicherheit der Systemlandschaft?
Wie so oft, ist auch hier Augenmaß angebracht. Trotz aller genannten Veränderungen ist Geschwindigkeit nicht die neue Norm für eine moderne IT-Organisation. Entscheidend ist, angesichts vielfältiger unterschiedlicher Anforderungen, das richtige Tempo gehen zu können: eine IT der zwei Geschwindigkeiten. Gartner hat hierfür unterschiedliche Vergleiche angestrengt. Wir verwenden gerne das einprägsame Bild von Marathonläufern und Sprintern.
Die Marathon-IT steht für Ausdauer und Zuverlässigkeit. Sie bleibt verantwortlich für klassische Kernsysteme mit hohen Anforderungen an Stabilität, Datenintegrität und Datensicherheit wie zum Beispiel Produktionssysteme, die Finanzbuchhaltung oder auch sicherheitsrelevante Anwendungen, beispielweise in der Flugsicherung. Ein beruhigender Gedanke.
Für Produkte und Services mit kurzen Innovationszyklen und kurzer Time-to-Market entsteht eine neue Sprint-IT, die von Schnelligkeit und Agilität geprägt ist. Sie agiert unter höherer Unsicherheit und mit unklaren Anforderungen. Sie baut leichtgewichtige Prototypen für Produkte und Services, validiert sie schnell mit den Endanwendern und setzt deren Feedback in kurzen Zyklen in Produktänderungen um.
Die Transformation einer IT-Organisation mit gleich getakteten Projekten in eine IT der zwei Geschwindigkeiten ist weit mehr als nur eine technische Umbaumaßnahme der IT-Landschaft. Sie wird flankiert von einer veränderten Geisteshaltung, einem kulturellen Umdenken. Sie erfordert neue, teilweise sehr spezifische Fähigkeiten von den Beteiligten. Und sie verlangt nach geeigneten organisatorischen Prinzipien.
Im Wesentlichen geht es in der Transformation der IT um vier Handlungsfelder: Kultur, Fähigkeiten, Organisation und IT-Landschaft.
Kultur - die Basis von allem
Herr Schicht atmet hörbar aus. Er ist erleichtert. Eben hat er einen ungewöhnlichen Workshop hinter sich gebracht. Über eineinhalb Tage hat er die Anforderungen seiner Kunden analysiert und daraus neue Ideen für sein Produkt entwickelt. Unterstützt von Beratern hat er die Ideen nach ihrem Innovationsgrad und ihrer Machbarkeit bewertet. Er hat sie priorisiert und einige davon prototypisch umgesetzt, um sie seinen Kunden zu zeigen. Was daran ungewöhnlich ist? Seine Kunden waren die ganze Zeit über dabei.
In den sieben Jahren, die Herr Schicht sein Produkt verantwortet, war er mit seinem Fachteam der zentrale Wissensträger und Vordenker. Gemeinsam überlegten sie, was ihren Kunden noch helfen könnte, wie bestehende Features weiterentwickelt werden sollten und welche neuen Erkenntnisse aus den verfügbaren Daten herauszuholen seien. Sie dachten konsequent von den eigenen Fähigkeiten, vorhandenen Daten oder technologischen Möglichkeiten aus. Doch oft gingen die Neuerungen an den Anforderungen der Kunden vorbei.
Dieses Mal bezog Herr Schicht seine Kunden von Beginn an ein. Eigene Annahmen des Produktteams blieben ebenso außen vor wie vorhandene Lösungsideen. Die Kunden formulierten frei ihre Bedürfnisse in der täglichen Arbeit und im Umgang mit dem Produkt. Herr Schicht und sein Team hörten zu, fragten interessiert und wertfrei nach und halfen so den Kunden, ihre Anforderungen zu schärfen. Die Ideen, die aus diesem Vorgehen entstanden, waren überraschend - und oft verblüffend einfach. Und sie lagen teilweise neben dem, was das Produktteam für Kernanforderungen der Anwender gehalten hatte.
Outside-in als Konzept der Innovationsentwicklung
Echtes, vorurteilsfreies Zuhören bringt wertvolle Erkenntnisse. Diese Haltung stellt den Kunden in den Mittelpunkt, fragt nach seinen Bedürfnissen und leitet daraus neue Produkte, Services oder Funktionen ab. Outside-in ist ein wesentliches Konzept derInnovationsentwicklungInnovationsentwicklung geworden. Im Unterschied dazu entwickelt Inside-out ein Produkt aus den vorhandenen Fähigkeiten, Daten oder technologischen Möglichkeiten. Alles zu Innovation auf CIO.de
Zum ersten Mal befragt Herr Schicht seine Kunden direkt. Er bekommt ungefiltertes Feedback zu der Lösung, die er seit sieben Jahre entwickelt. Er fragt nach den Wünschen der Kunden - völlig ergebnisoffen, ohne eine eigene beste Idee oder eine fertige Lösung vorzulegen. Und das alles im Beisein seines Chefs, der das neue Workshop-Format miterleben will. Was, wenn die Teilnehmer nicht mitziehen? Was, wenn die Kunden sein Produkt zerreißen? Wenn ihre Ideen und Anforderungen nicht umsetzbar sind?
Kultur des schnellen Feedbacks
Herr Schicht hat Angst, Fehler zu machen. Und er steht mit dieser Sorge nicht alleine da. Seit Jahrzehnten sind wir so sozialisiert: Erwünschtes Verhalten wird belohnt, unerwünschtes sanktioniert. Insbesondere auch in der Arbeitswelt führt das zu einer Kultur der Fehlervermeidung.
Das Wasserfall-Modell in der Anwendungsentwicklung ist Beleg dafür: Wir tun schon früh im Prozess alles, um am Ende eines langen Prozesses möglichst keine Fehler zu finden. Der Preis sind hunderte Seiten und tausende ausgegebene Euro für ausführliche Konzepte, eine Time-to-Market, die in Jahren statt Monaten gerechnet wird, und eine Organisation, die Verantwortung auf alle verteilt, so dass am Ende niemand mehr verantwortlich ist. Dennoch passieren Fehler. Sie ziehen dann oft ein Blame-Game nach sich, das Gräben zwischen Abteilungen vertieft, statt sie für neue Modelle wie Digital Labs zusammen zu schweißen.
Haltung der Fehlervermeidung kostet zu viel Zeit
Letztendlich sorgt die Haltung der Fehlervermeidung für lange Prozessketten, mit denen ein neues Feature zwar maximal abgesichert ist, aber deutlich später als die Wettbewerbsprodukte auf den Markt kommt. Die Absicherung kostet letztlich Marktanteile.
Sprint-IT tritt an, um Produkte und Services mit kurzen Entwicklungs- und Deployment-Zyklen auf den Markt zu bringen. Dabei passieren Fehler. Sie sind nicht schwerwiegend - ein Fehler im Prototyp wird mit dem nächsten Deployment des Sprint-Projekts nach wenigen Minuten behoben, automatisiert getestet und ausgespielt. Vor allem aber provozieren Fehler wertvolle Reaktionen der Kunden. Daher muss auch inhaltlich nicht alles hundertprozentig abgestimmt und fertig sein. Funktionen können nur rudimentär implementiert sein, um den Kunden eine erste Idee zu vermitteln und ihre Meinung einzuholen.
Sprint-IT braucht deswegen eine Kultur der Fehlerakzeptanz. Besser noch: eine Kultur des schnellen Feedbacks. Sie kennt keine Fehler, nur Rückmeldung. "Fail often and early" beschreibt eine Geisteshaltung, die in der Ideenfindung ebenso gültig und bedeutsam ist wie in der Umsetzung: Dinge einfach mal ausprobieren, mit den Betroffenen validieren und auf Basis ihres Feedbacks anpassen oder verwerfen. "Fail" bedeutet also weniger "Scheitern", als vielmehr feststellen, dass die aktuelle Idee die eigentlichen Bedürfnisse der Kunden noch nicht trifft. Dazu zu lernen und zu ergänzen. Und am Ende das Produkt zu liefern, das den Kunden wirklich nützt.
Herr Schicht war überwältigt, zu sehen, mit welch spielerischer Freude seine Kunden, das Produktteam und auch sein Chef ausgewählte Lösungen ausarbeiteten. Mit Papier und Schere, Stiften und Kleber, mit Lego und Alltagsgegenständen. Sie formten rudimentäre, anfassbare Prototypen, die sie den anderen Teams vorstellten. Der Spaß am Experimentieren war dabei ebenso groß wie der Erkenntnisgewinn zu den Lösungsideen. Richtig verstandenes "Scheitern" kann so schön sein. Und so erfolgreich.
Der Perspektivwechsel muss vorgelebt werden
Ein solcher Kulturwandel lässt sich nicht von oben verordnen. Es geht um einen Perspektivwechsel, das aktive Einnehmen einer veränderten Geisteshaltung. Dieser Wandel will gelebt und vor allem vorgelebt werden. Er stellt hohe Anforderungen an die Führungskräfte, und er benötigt bewusstes Change Management. Outside-in-Denken bedeutet letztlich auch die Einsicht, dass die Kreativität der Gruppe dem Wissen des Einzelnen überlegen ist.
Dass es einen gewissen Verlust an Planbarkeit und Kontrolle geben muss, ist besonders für Führungskräfte schwer zu verstehen. Sie sind es gewohnt zu moderieren, zu steuern und am Ende zu entscheiden. Je mehr sie es schaffen, ihr lange geübtes Rollenverständnis loszulassen, desto leichter gelingt der Wandel hin zu einer offenen, an den Bedürfnissen der Kunden ausgerichteten Kultur.
Fehler zu akzeptieren und als Rückmeldung wertzuschätzen ist eine Haltung, die wir alle erst lernen. Erfahrungsgemäß braucht eine solche Feedback-Kultur starke Vorbilder -idealerweise mit Führungsverantwortung. Um von der modischen Worthülse zur erlebten Haltung zu werden, muss sie konsequent vorgelebt werden. Wenn das gelingt, profitiert die gesamte IT-Organisation von Ideenreichtum, Spaß und Eigeninitiative - ganz gleich, ob in der Marathon-IT oder Sprint-IT.
Mit Outside-In-Perspektive und Feedback-Kultur schaffen Unternehmen ein gutes Stück des Weges bei der kulturellen Veränderung, die für eine IT der zwei Geschwindigkeiten nötig ist. Natürlich werden auch neue Fähigkeiten bei Mitarbeitern, andere Organisationsformen und eine veränderte IT-Landschaft benötigt, doch der Kulturwandel ist die Grundlage dafür, dass der Aufbruch nachhaltig ist. Nur mit großer Unterstützung des Top Managements gelingt dieser Wandel.