Krisenmanagerin statt Visonärin

Angela Merkels durchwachsene EU-Bilanz

21.12.2020
Selten waren die Erwartungen an eine EU-Ratspräsidentschaft so groß. Beim Gipfel ganz zum Schluss gelingt der Kanzlerin einiges. Manches bleibt jedoch unerledigt.
Als europäische Visionärin wird Merkel sicher nicht in die Geschichte eingehen, aber als jemand, der den Laden in tiefen Krisen zusammengehalten hat.
Als europäische Visionärin wird Merkel sicher nicht in die Geschichte eingehen, aber als jemand, der den Laden in tiefen Krisen zusammengehalten hat.
Foto: Alexandros Michailidis - shutterstock.com

Angela Merkel gehört nicht zu den Menschen, die mit Erfolgen prahlen. Wenn sie hochzufrieden mit dem Ergebnis einer extrem mühsamen Verhandlungsrunde ist, sagt die Bundeskanzlerin Sätze wie: "Das war ein hartes Stück Arbeit." Oder: "Dafür hat es sich auch gelohnt, eine Nacht nicht zu schlafen." So war es auch, als sie nach mehr als 21 Stunden hartem Ringen beim letzten EU-Gipfel unter deutscher Ratspräsidentschaft übermüdet vor die Journalisten trat.

Das Lob überlässt Merkel den beiden Mitstreitern neben ihr. "Was für eine Präsidentschaft!", jubelt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Und Ratspräsident Charles Michel würdigt, dass die Kanzlerin sich "total eingebracht und mobilisiert hat, die Ärmel hochgekrempelt hat, mit Kreativität, mit viel Entschlossenheit und Willen und mit einem unerschütterlichen Engagement für Europa".

Dauerkrisenmanagement für Merkel

So sehr allen dreien die Erleichterung an diesem trüben Dezembermorgen in Brüssel anzumerken ist - die ermüdenden Marathonverhandlungen stecken ihnen in den Knochen. Und nicht nur das: Die ganzen sechs Monate im EU-Vorsitz waren für Merkel eine Art Dauerkrisenmanagement.

Es begann mit einem Kraftakt im Juli, als die Staats- und Regierungschefs tatsächlich vier Tage und Nächte im Brüsseler Europagebäude zusammengepfercht waren, bis der Haushalt für die nächsten sieben Jahre stand - ein beispielloses Finanzpaket von 1,8 Billionen Euro einschließlich 750 Milliarden Euro gegen die Corona-Rezession.

Schon damals wurde das Paket als großer Erfolg gefeiert. Allerdings: zu früh. Denn die im Juli verabredete Klausel gegen Rechtsstaatsverstöße erboste Ungarn und Polen so, dass sie mit ihrem Veto die gesamten 1,8 Billionen Euro blockierten. Nur nach einem typisch Brüsseler Kompromiss - einer Zusatzerklärung, die prompt jeder in seinem Sinne auslegte - lenkten die beiden Staaten ein.

Errungenschaften im EU-Vorsitz

Merkel persönlich hatte daran gehörigen Anteil, in tagelanger Kleinarbeit und mit einer Mischung aus Locken und Drohen brachte sie den Ungarn Viktor Orban und den Polen Mateusz Morawiecki auf Linie. So ist es auch ihre größte Errungenschaft im EU-Vorsitz, dass dieses riesige Finanzpaket mitten in der Corona-Krise nicht auf Eis bleibt, sondern tatsächlich in absehbarer Zeit Geld fließen kann.

Aber der Haushaltsstreit ist auch das perfekte Beispiel, warum die EU so unendlich mühsam sein kann: Ist das Ziel nur wichtig genug, können ein, zwei Abweichler die Gemeinschaft mit ihren Sonderinteressen quälen. So geschehen auch beim zweiten großen Beschluss des Gipfels, der Verschärfung des EU-Klimaziels für 2030 auf mindestens minus 55 Prozent bei den Treibhausgasen im Vergleich zu 1990. Polen drohte wieder mit einem Veto und sicherte sich so in einer endlosen Nachtsitzung zusätzliche Garantien für Finanzhilfen und mehr Mitsprache bei der Energiewende.

Unter dem Strich stehen nun aber zwei Erfolge, mit denen Merkel die Bilanz ihrer Ratspräsidentschaft, die am 31. Dezember endet, erst einmal gerettet hat. Bei einem dritten Mega-Thema steht am kommenden Sonntag der Showdown an. Dann soll sich entscheiden, ob die EU und Großbritannien den Brexit mit einem Handelspakt in geordnete Bahnen lenken können. Dabei hat allerdings von der Leyen die Federführung.

Einige Themen sind für die deutsche Präsidentschaft bereits erfolglos abgehakt und aufgehoben für die Nachfolger. Vieles von dem, was man sich vorgenommen habe, sei nicht umgesetzt worden, räumt Merkel selbst ein.

Migration: Zwar hat die EU-Kommission im September Vorschläge für eine Asylreform gemacht. Eine Einigung zwischen den 27 Mitgliedstaaten ist aber nicht in Sicht. Merkel hat das Thema weitgehend Innenminister Horst Seehofer (CSU) überlassen - vielleicht auch weil sie wusste, wie gering die Einigungschancen in so kurzer Zeit sind.

Rolle Europas in der Welt: Wie positioniert sich die EU zwischen den Großmächten USA und China? In dieser Frage gab es kaum Fortschritte. Ein EU-China-Gipfel in Leipzig, der Höhepunkt der deutschen Präsidentschaft werden sollte, wurde wegen Corona abgesagt. Um die transatlantischen Beziehungen wird man sich erst nach dem Machtwechsel im Weißen Haus am 20. Januar wieder richtig kümmern können. In der Diskussion um die sicherheitspolitische Souveränität Europas überließ Merkel das Feld ihrer Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Die legte sich mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron an.

Vor allem aber wird der Kanzlerin angekreidet, dass sie auch nach 15 Jahren an der Spitze des bevölkerungs- und wirtschaftsstärksten EU-Landes keine Vision für das Europa der Zukunft entworfen habe. Sie habe zwar wieder einmal unter Beweis gestellt, was sie am besten könne: Eine Krise managen, das Notwendige tun und es dann auch durchsetzen, sagt die Grünen-Europapolitikerin Franziska Brantner. "Was ich aber vermisst habe, ist das Vorausdenken: Was wollen wir eigentlich in Europa, was ist eigentlich unsere Aufgabe als Deutschland in diesem Europa und wie sehen wir die Zukunft Europas?"

Als europäische Vordenkerin wird Merkel nicht in die Geschichtsbücher eingehen. Aber immerhin als jemand, der den Laden in tiefen Krisen zusammengehalten hat. "Wir werden entschlossen der Gefahr entgegenarbeiten, dass sich dauerhaft ein tiefer Spalt durch Europa zieht", hatte sich die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung zu Beginn der Ratspräsidentschaft vorgenommen. Mit den beiden Kompromissen, die sie beim EU-Gipfel mit Ungarn und Polen gefunden hat, ist ihr ein wichtiger Beitrag dazu gelungen. Dieses Krisenmanagement wird man bei EU-Gipfeln vielleicht noch vermissen. (dpa/rs)

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