Bärbel Bas im Interview
Bundestagspräsidentin will Gesamtanstrengung für mehr Bildungschancen
Die Klagen über mangelnde Bildungsgerechtigkeit in Deutschland sind alt - aber weiter aktuell, wie Studien zeigen. Die Bildungschancen von Kindern werden auch heute noch stark durch ihre soziale Herkunft bestimmt. Das Thema ist Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) ein großes Anliegen.
Frau Bundestagspräsidentin, wenn man ein Beispiel für Bildungsaufstieg sucht, könnte man ganz einfach Sie wählen.
Bärbel Bas: Ja, das kann man.
Vater Busfahrer, mit fünf Geschwistern aufgewachsen, Hauptschulabschluss, dann doch studiert, schließlich Abgeordnete geworden und nun sogar Bundestagspräsidentin. Sind solche Bildungskarrieren heute noch möglich?
Bärbel Bas: Es ist nach wie vor möglich, aber solche Karrieren sind immer noch auf Zufall angelegt. Man braucht viel Glück und jemanden, der das Talent erkennt und Bildungschancen eröffnet. Das muss man dann auch annehmen und diesen Weg gehen. Also: Bildungskarrieren sind weiterhin möglich, aber für bestimmte Menschen ist ein Aufstieg nach wie vor schwer. Und die Auswirkungen der Corona-Pandemie machen die Lage nicht einfacher.
Und die Realität schaut anders aus.
Bärbel Bas: Statistiken und Studien belegen es: Junge Menschen studieren eher, wenn sie aus Akademikerhaushalten kommen. Unser Versprechen, dass Arbeiterkinder studieren können, gibt es in der Realität. Auch dank Fördermöglichkeiten wie Bafög etc. Trotzdem fällt es Kindern aus Familien mit geringem Einkommen schwerer. Oft fehlen die Vorbilder für den Bildungsaufstieg. Das war bei mir auch so. Ich kannte niemanden in meiner Umgebung, die oder der studiert hat. Deshalb entschied ich mich nach der Schule für eine Ausbildung.
Zur Analyse gehört auch, dass jedes Jahr 45 000 bis 50 000 junge Leute die Schule ohne Abschluss verlassen.
Bärbel Bas: Das ist wirklich ein Armutszeugnis für unser Bildungssystem. Und warum hat man keinen Abschluss? Manchmal liegt es an der Person selbst. Aber viel öfter liegt es daran, dass der junge Mensch in seiner Schullaufbahn die benötigte Förderung wie beispielsweise Nachhilfe nicht bekommt. Und dann abbricht.
Wir diskutieren gerade über die Kindergrundsicherung. Brauchen wir auch eine Bildungsgrundsicherung?
Bärbel Bas: Ich möchte jetzt kein neues Wort schöpfen. Ich glaube, wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit aller Ebenen und Institutionen. Durch den Föderalismus haben wir im Bildungsbereich drei Akteure: Den Bund, der vieles an Programmen anstoßen kann. Zum zweiten die Länder, weil sie primär für die Bildungspolitik zuständig sind. Und schließlich die Kommunen, die zum Beispiel für die Ausstattung der Schulgebäude sorgen müssen. Die Länder sind dafür verantwortlich, dass genug Lehrpersonal da ist. Der Bund darf nach den Vorstellungen der Länder Geld geben, aber nicht wirklich mitbestimmen. Ich bin fest überzeugt: Wir brauchen eine Gesamtanstrengung aller drei Ebenen, damit es im Bildungsbereich gerechter und erfolgreicher vorangeht.
Sie haben dafür eine Kommission von Bund, Ländern und Kommunen vorgeschlagen. Wie war die Resonanz?
Bärbel Bas: Ich glaube, die Länder hatten ein bisschen die Sorge, dass ich eine neue Föderalismuskommission fordere, was ich nicht tue. Ich plädiere dafür, uns stärker zu vernetzen und enger zusammenarbeiten. Für diesen Ansatz habe ich positive Reaktionen bekommen.
Und wird es dazu auch kommen?
Bärbel Bas: Der vom Kabinett gerade beschlossene Nationale Aktionsplan "Neue Chancen für Kinder in Deutschland" ist zum Beispiel ein Rahmen, in dem Kommunen, Länder und der Bund tatsächlich besser zusammenkommen könnten. Die dort gesammelten 350 Maßnahmen stehen erst mal auf dem Papier. Um den Plan über die nächsten Jahre umzusetzen, braucht es diese engere Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen.
Vieles ist ja eine Geldfrage. Im vergangenen Jahr wurde ziemlich schnell ein 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr aufgelegt. Brauchen wir auch ein Sondervermögen Bildung?
Am Ende muss es mehr Geld sein
Bärbel Bas: Am Ende muss es mehr Geld sein, ja. Aber wir haben auch grundlegende strukturelle Probleme, die sich nicht mit Geld allein lösen lassen.
Nun schaut die Situation in Deutschland nicht überall gleich kritisch aus. Sollen trotzdem alle Länder mehr Mittel bekommen?
Bärbel Bas: Mehr Geld ist grundsätzlich gut. Entscheidend ist aber, dass das vorhandene Geld effizienter eingesetzt wird. Wir müssen insbesondere Brennpunktbereiche besser mit Personal und Finanzmitteln unterstützen. An der Bildungslandkarte lässt sich klar ablesen, wo die Probleme besonders ausgeprägt sind. Um diese Regionen müssen wir uns verstärkt kümmern, hier sollten wir ganz gezielt mehr Mittel und Personal einsetzen.
Es geht nicht nur um Akademiker. Viele Betriebe klagen, dass sie keinen Nachwuchs mehr bekommen. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Bärbel Bas: Eine Berufsausbildung im dualen System hat heute ein minderwertigeres Image. Deshalb glauben leider viele Jugendliche, dass sie unbedingt studieren müssen. Wenn man sich die Inhalte der Ausbildungen aber genauer anschaut, wird klar: Ausbildung und Studium sollten gleichwertig betrachtet werden. Viele Mittelständler suchen Nachfolger. Sie haben niemanden, der die Firma übernimmt. Mit einer guten Ausbildung kann man ein Unternehmen führen.
Bei meinen Besuchen in Hauptschulen merke ich immer wieder: Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich als "Restschule". Sie glauben: Wir haben eh keine Chance, wir haben schon verloren, wir sind auf der Strecke geblieben. Wenn junge Leute mit solchen Gefühlen bereits zur Schule gehen, braucht man sich über die Abbrecherzahlen nicht zu wundern. Wir brauchen auch hier einen Imagewandel.
Fachkräftemangel gibt es auch im Lehrerzimmer. Wieso wird es immer schwieriger, Lehrkräfte zu finden?
Bärbel Bas: Ich glaube, es ist fast wie im Pflegebereich: Wenn es zu wenig Personal gibt, wächst der Druck zu stark auf die einzelne Fachkraft und die Leute steigen aus. Hinzu kommt dann oft ein schwieriges Bildungs- und soziales Umfeld, Kinder mit vielen Problemen, Schwierigkeiten in den Familien. Wir haben in meiner Heimatstadt Duisburg viele offene Stellen. Weil: Wer geht schon freiwillig in Brennpunktbezirke?
Was kann man denn dagegen tun?
Bärbel Bas: Das Vergütungssystem ist natürlich ein Weg, um einen Beruf attraktiver zu machen. Das ist bei Beamten nicht so einfach, aber in anderen Berufen gibt es praktikable Lösungen. Wer zum Beispiel an einer Brennpunktschule arbeitet, könnte mit Zulagen mehr verdienen. Vor allem dürfen wir aber nicht immer alles bei den Lehrerinnen und Lehrern abladen. Wir müssen sie von fachfremden Aufgaben entlasten und die Schulen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer Fachrichtungen öffnen, etwa Sozialarbeit oder der technische Bereich.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Bärbel Bas: Nehmen wir die Digitalisierung der Schulen: Da müssen sich die Lehrkräfte irgendwie in die Technik reinfuchsen, damit alles für den Unterricht funktioniert. Auch wenn hier ebenfalls Fachkräftemangel herrscht: Warum versuchen wir nicht, IT-Expertinnen und -experten in die Schule zu holen? Dann könnten die Lehrerinnen und Lehrer sich auf das konzentrieren, was und wie die Kinder lernen sollen. Ich bin überzeugt: Wir müssen Schule von innen neu denken.
Zur Person: Bärbel Bas kam 1968 in Walsum, das heute zu Duisburg gehört, zur Welt. Sie erlernte zunächst den Beruf der Bürogehilfin, absolvierte später ein Studium zur Personalmanagement-Ökonomin und übernahm die Abteilung Personalservice einer Krankenkasse. 1988 trat sie in die SPD ein. Dem Bundestag gehört sie seit 2009 an. 2013 bis 2019 war sie Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, anschließend stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Im Oktober 2021 wurde sie zur Bundestagspräsidentin gewählt. (dpa/ad)