Hartmut Rosa

"Die eingesparte Zeit ist im Eimer"

11.03.2014
Von Christopher Schwarz und Dieter Schnaas

Der Kampf gegen den systemischen Druck

Möglich. Aber warum dämonisieren Sie den Kapitalismus als ein System, dessen Logik größer ist als die Menschen, die ihm angeblich unterworfen sind? Sie können doch nicht allen Ernstes meinen, dass die Wachstums-, Leistungs- und Beschleunigungsimperative, die sie beschreiben, alle unsere Lebensbereiche auf totalitäre Weise durchdringen?

Es geht hier nicht um ein totalitäres politisches System, sondern um eine Art systemischen Druck. Er ergreift alle Bevölkerungsschichten, vom Banker bis zum Arbeitslosen - und er ergreift alle Lebensbereiche, bis hin zum Liebesleben. Das meine ich mit totalitär: Man kann sich gegen diesen systemischen Druck kaum zur Wehr setzen. Bei den Zeitnormen der Moderne handelt es sich eben nicht um ethische oder politische Normen, über die man streiten könnte. Sie wirken hinter dem Rücken der Akteure. Sie gelten ungefragt. Eine Norm aber, die alle Bevölkerungsgruppen und alle Lebensbereiche durchdringt, ohne dass sie kritisiert werden kann, ist totalitär.

Du liebe Güte. Sie erklären uns zu willenlosen Werkzeugen, zu Sklaven eines anonymen Beschleunigungsregimes. Marxismus, ick hör dir trapsen …

Ich bin kein Marxist. Aber ich finde Marx‘ These hochinteressant, dass die Kapitalbewegung zum Subjekt der Geschichte wird, die uns Menschen zu ihren Objekten macht.

Familie, Religion, Kunst, Sport, Reisen, ein Besuch im Kloster, der Sportverein - die Kapitalbewegung hat unser Leben bunt gemacht, uns ungeheure Optionen eröffnet, uns überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, den Zwängen des täglichen Lebens zu entkommen.

Ein Manager mag für drei Wochen ins Kloster gehen. Aber das hat doch nichts mit dem richtigen Leben im falschen zu tun. Das ist doch nur eine neue Technik, um noch effizienter zu sein. Das nenne ich funktionale Entschleunigung.

Mit diesem Funktionsargument halten Sie Ihre Theorie wasserdicht. Sie können, funktional gesehen, alles zum Derivat der großen Beschleunigungsbewegung erklären.

Ich gebe zu, es gibt Alternativen. Zum Beispiel den hochbegabten Doktoranden, der gesagt hat: In diesem verhetzten Wissenschaftsbetrieb mache ich nicht mit, ihr könnt mich mal, ich gehe nach Indien, um dort zu meditieren. Der ist tatsächlich ausgestiegen. Aber der zahlt auch einen hohen Preis: Ein Zurück gibt es nicht. Auch aus Wirtschaftskreisen höre ich, dass gerade der hochbegabte Nachwuchs sich zuweilen totalverweigert. Offenbar gibt es ernstzunehmende Widerstandsressourcen.

Widerstand ist das Eine. Alltagsbeobachtungen sind das andere. Bei Klassentreffen stellt man häufig fest, dass die Menschen ortsfester und undynamischer sind als Sie annehmen. Überschätzen Sie nicht die innere und äußere Mobilmachung des modernen Menschen?

Vielleicht. Jedenfalls wechseln die Menschen nicht so häufig den Beruf und den Wohnort, wie es die Beschleunigungsthese nahelegt. Aber was bei Dableibenden wie Wegziehenden ins Unterbewusstsein einzieht, ist ein entschiedenes Kontingenzbewusstsein: Das Wissen darum, dass es die Möglichkeit und womöglich auch die Erwartung gibt, dass nicht alles so bleibt, wie es ist. In meiner Generation galt noch, dass man sich einmal im Leben positioniert. Es gab feste Karrierewege. Wer bei BMW oder Siemens anfing, ging davon aus, sein Leben lang dort zu bleiben. Wer heute ins Berufsleben einsteigt, verfährt nach der Regel: Mal sehen, was kommt.

Und ob etwas kommt oder nicht …

… ist ganz egal. Denn fest steht: Es kann etwas kommen. Weil es mich irgendwann privat oder beruflich wegzieht. Weil die Firma restrukturiert wird oder dicht macht. Das Bewusstsein dafür, dass der Wohnort, der Arbeitsplatz und die Familienverhältnisse sich ändern könnten, ist entschieden gestiegen.

Gestiegen ist in den westlichen Wohlstandsgesellschaften aber auch das Quantum an Freizeit. Acht-Stunden-Tage, Wochenenden, 30 Tage Urlaub im Jahr - wie verträgt sich Ihre These der zunehmenden Zeitknappheit mit dem Zuwachs an Freizeit?

Beschleunigung heißt nicht, dass wir weniger Freizeit haben, sondern dass wir unsere Zeit verdichten. Die meisten Menschen haben heute To-do-Listen im Kopf. Und diese Listen werden nicht nur, wie die Zeitbudgetforschung zeigt, immer länger. Auch wächst das Gefühl, die Listen nicht mehr abarbeiten zu können – und zwar unabhängig davon, wie viel Freizeit wir haben. Dass der Aufgabenberg immer größer wird und Zeit deshalb knapper, hat also gar nichts mit unserem Arbeits- oder Freizeitvolumen zu tun. Wir geraten trotz zunehmender Freizeit unter massivem Optimierungsdruck. Und ermahnen uns immer, wenn wir gerade etwas tun oder lassen, wir könnten eigentlich auch gerade etwas anderes tun oder lassen.

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