Milliardenskandal
Wirecard-Prozess dreht sich um Marsalek
Im Münchner Wirecard-Prozess wird ein Abwesender zur Hauptfigur: Der seit drei Jahren untergetauchte Vertriebsvorstand Jan Marsalek hat in einem von seinem Anwalt aufgesetzten Brief an das Landgericht München I massive Anschuldigungen gegen den Kronzeugen der Anklage erhoben. Das geht aus Auszügen des Schreibens hervor, die die Verteidigung des ehemaligen Vorstandschefs Markus Braun am Mittwoch im Gerichtssaal vortrug.
Über seinen Anwalt wirft der in Russland vermutete Marsalek dem Kronzeugen Oliver Bellenhaus vor, sich der Staatsanwaltschaft als "anpassungsfähiger Zeuge" angedient zu haben, um sich später "in Freiheit mit von ihm veruntreuten Firmengeldern in Millionenhöhe als geläuterter Büßer nach Dubai zurückziehen zu können". Diese Zitate verlas Rechtsanwalt Nico Werning, einer der Verteidiger Brauns.
Am Vormittag hatte es in dem bunkerartigen unterirdischen Gerichtssaal im Münchner Gefängnis Stadelheim zunächst Wortgefechte gegeben. "Wollen Sie den Brief in der Schublade verschwinden lassen", fragte Brauns verärgerter Verteidiger Alfred Dierlamm in Richtung Richterbank.
Wie den im Gerichtssaal verlesenen Zitaten weiter zu entnehmen war, widerspricht Marsalek nicht nur Aussagen des Kronzeugen, sondern auch der Einschätzung des Insolvenzverwalters, dass ein Großteil der Wirecard-Geschäfte erfunden gewesen sei. Das würde die Verteidigung Brauns stützen. Dessen Anwälte beantragten die Verlesung des vollständigen Schreibens in der Hauptverhandlung. Die Kammer entschied zunächst nicht über den Antrag, sondern beendete den Prozesstag.
Vorwurf der kriminellen Betrügerbande
Laut Anklage bildeten der seit Sommer 2020 in Untersuchungshaft sitzende Vorstandschef und seine Komplizen eine kriminelle Betrügerbande. Sie sollen Banken und Investoren nicht vorhandene Geschäfte vorgegaukelt haben, um mit Hilfe von Krediten in Milliardenhöhe ihr defizitäres Unternehmen über Wasser zu halten.
Die Münchner Staatsanwaltschaft beziffert den Schaden für die Kreditgeber auf über drei Milliarden Euro, das wäre der größte Betrugsschaden in Deutschland seit 1945. Die Anklage stützt sich ganz wesentlich auf Bellenhaus' Aussagen, ehedem Leiter der Wirecard-Tochtergesellschaft in Dubai.
Braun und seinen Verteidigern zufolge war das "Tatbild" ein ganz anderes: Demnach waren die Wirecard-Geschäfte echt, Drahtzieher Marsalek soll gemeinsam mit Bellenhaus und zahlreichen weiteren Komplizen den Konzern ausgenommen und an die zwei Milliarden Euro auf eigene Konten umgelenkt haben. Ein ebenso ahnungsloser wie unschuldiger Ex-Vorstandschef Braun wäre demnach weder Täter noch Mitwisser gewesen.
Diese Argumentation steht im Widerspruch nicht nur zur Anklage, sondern auch zur Einschätzung des Insolvenzverwalters Michael Jaffé: Der hatte kürzlich bekräftigt, keine Spur der vermissten Milliarden gefunden zu haben. Sollte das Gericht am Ende Dierlamms Argumenten folgen, würde das sowohl für die Münchner Staatsanwaltschaft als auch den Insolvenzverwalter einen großen Rufschaden bedeuten.
Marsalek verantwortete als Vertriebsvorstand das Geschäft mit sogenannten Drittpartnerfirmen. Externe Zahlungsdienstleister wickelten im Wirecard-Auftrag - echte oder erfundene - Kreditkartenzahlungen überwiegend in Asien ab.
2020 kam für Wirecard das Aus
Im Sommer 2020 war der einstige Dax-Konzern zusammengebrochen, weil 1,9 Milliarden Euro angeblicher Erlöse aus diesem Drittpartnergeschäft nicht auffindbar waren. Marsalek floh ins Ausland und wird in Russland vermutet, Braun und Bellenhaus stellten sich der Justiz und sitzen seither in Untersuchungshaft. Aus den bisher im Prozess vorgetragenen Dokumenten geht hervor, dass Marsalek und Bellenhaus über Jahre eng zusammen arbeiteten.
Ungeklärt blieben im Gerichtssaal zwei weitere von vielen Wirecard-Rätseln: Welche Motive Marsalek dazu getrieben haben könnten, sich per Anwaltsbrief bei Gericht zu melden und einen einstigen Verbündeten zu beschuldigen.
Bellenhaus' Verteidiger Florian Eder sagte nach Ende der Verhandlung, der Brief enthalte nichts Konkretes und sei "von vorn bis hinten Blödsinn". Eders Fazit: "Beweiswert gegen null. (..) Man kann es gern verlesen."
Der Prozess läuft seit Anfang Dezember, der Mittwoch war der 53. Prozesstag. Bisher haben jedoch nur Zeugen ausgesagt, die von den Ermittlern nicht zur Wirecard-Bande gezählt werden, und nach Auffassung der Verteidiger Brauns dementsprechend auch kein Insiderwissen haben.
Produktvorständin Steidl beteuert keinerlei Kenntnis
Marsalek soll seine Geschäfte sogar vor dem übrigen Vorstand abgeschottet haben, wie die frühere Produktvorständin Susanne Steidl als Zeugin erläuterte. "Ich habe keine Passwörter gehabt", sagte die 52 Jahre alte Managerin. Wie Braun und Marsalek stammt auch sie aus Österreich.
Marsaleks Drittpartnergeschäft war nach Steidls Worten für sie als Mitglied der Konzernspitze unzugänglich, da auf externen Computersystemen abgespeichert: "Ich hatte keine Vorstellung, wo das war." Die Managerin hatte nach eigenen Worten zufolge keine Ahnung, dass es bei dem Konzern kriminell zuging: "In meiner Wahrnehmung war Wirecard erfolgreich." (dpa/rs)