Stress, Hektik und keine Ruhe
Der Kampf gegen die Zeitknappheit
Warten muss nicht die Hölle sein
Heute laufen wir Gefahr, zwischen Zeitfetzen zu vagabundieren. Die Gretchenfrage lautet: Wie viel Flexibilität verträgt jeder Einzelne? Wie viel die Gesellschaft? Wer kann den gesundheitlich gesehen höchst sinnvollen Mittagsschlaf wirklich machen? Oder lachen wir Deutschen in Wahrheit nicht, wenn wir Fotos von Japanern sehen, die mittags mit dem Kopf auf dem Schreibtisch eingedöst sind für eine Viertelstunde?!
Der Mensch braucht Lücken in seinen Abläufen: "Ohne Intervalle, ohne Pausen ist die Musik nichts als Lärm. Ohne Dehnungsfuge ist kein Haus stabil", schreibt Geißler. Er betont, wie wichtig Pausen sind, ein "Dazwischen". Doch durch die Verdichtung von Abläufen werden die für den Menschen so wichtigen Intervalle zusammengeschoben. Raucherpausen haben Vor- und Nachteile. Doch gönnt uns der Arbeitgeber wirklich Nichtraucherpausen?
- Quelle
Lothar Seiwert<br> Das neue Zeit-Alter – Warum es gut ist, dass wir immer älter werden<br> Ariston 2014, 256 Seiten<br> ISBN 978-3-424-20106-2 - Rentner als Vorbild
Auch Rentner sollten einen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Die absolvierte Lebensarbeitszeit und die eingezahlten Rentenbeiträge sind kein ausreichendes Argument für den Ruhestand, weil dessen Finanzierung so nicht vollständig abgedeckt ist. Nach dem sozialversicherungspflichtigen Erwerbsleben gibt es für ältere Menschen vier geeignete Rollen, in denen sie als Vorbilder agieren können: als Mentor, Senator, Tutor und Kurator. - Die Alten
Die Werte der Alten sind genau das, was uns bislang gefehlt hat. Erst wenn wir die Alten in der Mitte unserer Gesellschaft integrieren als produktiven und aktiven Teil des Ganzen, ergibt sich ein rundes Bild. Dabei benötigen wir die Alten genauso, wie sie sind! Schließlich brauchen die Jungen keine weiteren „Möchtegernjungen“ neben sich. - Pro Aging
Je mehr ich über diesen ganzen Komplex unseres Umgangs mit dem Alter nachdenke, desto mehr glaube ich, dass wir eine Pro-Aging-Bewegung brauchen. Erst wenn wir alle davon überzeugt sind, dass das Alter zu den besten Zeiten des Lebens zählt und es nicht nur erstrebenswert und schön ist, viele Jahre zu leben, sondern auch alt zu sein – erst dann werden wir dieses selbstgemachte Problem gelöst haben. - Arbeitszeitmodelle
Neue Arbeitszeitmodelle entlasten unser gesamtes Leben – das gilt für alle Generationen. Ältere Arbeitskräfte sind gefragt wie nie. Was sie an Erfahrung und Wissen mitbringen, wiegt mögliche Körperliche oder kognitive Defizite auf. Altersgemischte Teams können produktiver sein als homogene Teams. - Unternehmen
Das riesige Reservoir von Know-How und Erfahrung zu erschließen, sehe ich nicht als Aufgabe der Politik. Wie sollte das auch gehen? Die Unternehmen sollten die Politiker einfach links liegen lassen und aus eigenem Antrieb attraktive Lösungen anbieten, die es Menschen zwischen 65 und 75 ermöglichen, ihren Leistungspotentialen, aber ebenso ihren Leistungsbeschränkungen gemäß zu arbeiten. - Un-Ruhestand
Das Konzept des Ruhestands, wie es über Jahre existierte, hat ausgedient. Wir können es uns, wie wir gesehen haben, nicht mehr leisten, weder finanziell noch in Bezug auf die Psyche und die Gesundheit. Einfach nur so rumzuhängen und zu chillen ist out, ist verschwendete Zeit, verschwendetes Leben – und totes Kapital, das sich in Form von Lebenserfahrung, Reife und Besonnenheit einsetzen ließe. - Fit oder fertig
Es geht nicht um den neuen Olympiasieger oder den neuen Iron Man, sondern um die kleinen Schritte im Alltag, die wir alle tun können, damit Körper und Gehirn in Bewegung bleiben. Das funktioniert im Stehen, im Gehen, im Sitzen, ja sogar im Liegen! Du bist, was du denkst: fit oder fertig. Diese innere Einstellung eröffnet uns ganz neue Chancen. - Etwas tun!
Jeder von uns kann – ohne jeglichen Bekanntheitsgrad – sein Leben und seine Leistungen in den Dienst von etwas Größerem stellen. Ob wir damit dann einen einzigen Menschen erreichen oder Millionen, spielt keine Rolle. Etwas zu tun ist besser, als Fernsehen zu gucken, „Edle Tropfen zu knabbern“ oder Kreuzworträtsel zu lösen. - Einstellung
Ich bin davon überzeugt, dass sich unsere Gesellschaft auf die skizzierte besorgniserregende demografische Entwicklung einstellen wird. Und zwar nicht, weil die Politiker es endlich begreifen, sondern weil sich die Einstellung der Menschen zum Alter verändert – was dann zwangsläufig zu einer angepassten Politik führt.
Allein schon auf einen verspäteten Zug zu warten ist für viele Menschen schrecklich: uneffektiv, ungeplant, einfach die Hölle. Dabei könnte man Wartezeit auch positiv sehen: als Chance für einen kreativen Moment, als Mußeminute zum Reflektieren des Erlebten. "In der Welt des Zeit-ist-Geld-Diktats spielt es keine Rolle, dass das Warten von unterschiedlicher Qualität sein kann", schreibt Geißler. Wartenkönnen bereichere das Leben. Oder um es mit Leo Tolstoi zu sagen: "Denn alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann."
Für den Philosophen Arthur Schopenhauer wurde Zeit nur im Warten erfahrbar. Aber niemand zeigt so schön, dass leeres Warten den Menschen verändern kann, wie Samuel Beckett in "Warten auf Godot". Zwei Landstreicher warten auf Godot, ohne zu wissen, ob er kommt und wer er genau ist. Irgendwann kommen sie zu dem Schluss: "Komm, wir reden zusammen - wer redet, ist nicht tot." Ein Satz, als ob Becket die Generation Facebook und die gehetzten Manager mit ihren Smartphones als Gegenmittel zur Langeweile voraussah.
Ablenkung, Kommunikation und das immer und überall: Der moderne Mensch hält es mit Sören Kirkegaard und seinem Ausspruch, dass die Langeweile die Wurzel allen Übels ist: "Der Mensch ist ein Wesen, das unterhalten werden muss."
Die Angst vor der Langeweile ist heute ein Massenphänomen. Bis vor 200 Jahren gab es sie maximal bei einigen Adligen. Heute ist die Enttäuschung des Nichterlebens weit verbreitet durch alle Schichten: Die modernen Nomaden erleben sie beim Warten an Flughäfen und Bahnhöfen, viele andere vor den Fernsehern. Aufmerksamkeitsspannen werden immer kürzer: Schulstunden dürften eigentlich nur noch rund 23 Minuten dauern, denn Studien haben ergeben, dass die Aufmerksamkeit von jungen Menschen genau so lange voll da ist. Übrigens fast auf die Sekunde genauso lange, wie eine Folge der TV-Serie "Simpsons" dauert.