Expertenmeinungen

Im Reality-Check: Die E-Mail stirbt aus

Alexander Freimark wechselte 2009 von der Redaktion der Computerwoche in die Freiberuflichkeit. Er schreibt für Medien und Unternehmen, sein Auftragsschwerpunkt liegt im Corporate Publishing. Dabei stehen technologische Innovationen im Fokus, aber auch der Wandel von Organisationen, Märkten und Menschen.
Bayer-CIO Daniel Hartert prophezeit der E-Mail die gleiche Zukunft wie der Postkutsche. Erste Anzeichen für ein Aussterben liegen vor. Trotzdem Quatsch, sagen die Wettgegner. Die Unternehmens-Mail werde immer beliebter. Ein Reality-Check.

Spam. Viren. Riesige CC-Verteiler. In der Tat: E-Mail ist dermaßen unpraktisch, dass bereits 2004 der amerikanische IT-Experte Lawrence Lessig öffentlich seinen "E-Mail-Bankrott" erklärte. Er markierte sämtliche Nachrichten in seiner Inbox und löschte sie. Einfach so. Seitdem ist es nicht nur legitim, über das Ende der E-Mail zu spekulieren - für jeden Modernen gehört es zum guten Ton, die Evolution der Kommunikation von der persönlichen, zwischenmenschlichen auf die "soziale" Ebene zu betonen.

Grafik: Status Quo - So viele Mails empfängt ein User täglich.
Grafik: Status Quo - So viele Mails empfängt ein User täglich.
Foto: cio.de

Sara Radicati, Chefin der US-Marktforschungsfirma Radicati Group, glaubt hingegen nicht an das Ende der E-Mail. Die Expertin für IT-gestützte Kommunikation prognostiziert zumindest bis 2016 einen gegenläufigen Trend (siehe Grafik auf dieser Seite): "Wir gehen davon aus, dass die Zahl der E-Mails in Unternehmen mittelfristig weiter zunimmt." Anders sieht es bei Privatnutzern aus - hier könnte Bayer-CIO Hartert mit seiner Einschätzung recht behalten, denn die E-Mail-Nutzung sinkt Radicati zufolge seit 2010, und es sieht nicht so aus, als könnte sie den Trend wenden. Bei Jugendlichen ist die E-Mail nicht mehr zeitgemäß.

Vor über 40 Jahren verschickte Ray Tomlinson die erste schriftliche Nachricht von Rechner zu Rechner. Heute schwirren mindestens 100 Milliarden E-Briefe pro Tag durch das Internet, pessimistischere Analysten schätzen sogar 247 Milliarden E-Mails, insgesamt waren es 2010 angeblich 107 Billionen E-Mails. Und wenn man alle Nicht-Spam-Mails eines einzigen Tages auf DIN-A4-Papier ausdruckt, ist der Stapel 2159-mal höher als der Mount Everest - etwa. E-Mail ist eine Erfolgsgeschichte, die "Killer-Applikation" des Internets. Wo wären wir heute ohne E-Mail?

Wesentlich weiter, hat sich der IT-Dienstleister Atos gedacht und eine Zero-Mail-Policy eingeführt. Bis Ende 2013 sollen alle E-Mails aus der internen Konzernkommunikation gelöscht sein. Laut Atos-CEO Thierry Breton, der das Thema persönlich angestoßen hat, sind nur 15 Prozent der täglichen Eingangspost nützlich - der Rest belaste die Effizienz. Die Frage ist nur: Welche Mail zählt zu den 15 Prozent? Insgeheim mag Breton viel Zuspruch erhalten haben, stört doch die elektronische Post seit Jahrzehnten unseren geregelten Tagesablauf im Büro durch plötzliches und unerwartetes Erscheinen sowie durch die Verbreitung unnützer Informationen und unverlangt zugeschickter Werbung. Nach einem Urlaub ist es besonders schlimm: Hunderte, gar Tausende Mails forderten uns umgehend Entscheidungen von enormer Tragweite ab.

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