Mediennutzung im Zeitalter von Web 2.0
Klicken statt Glotzen
Um 6.29 Uhr Ortszeit betritt eine auffällige Erscheinung den neu eröffneten Adidas-Laden: Vollbart, Schlapphut, taillierter dunkler Anzug. Doch trotz des markanten Äußeren nimmt niemand von ihr Notiz. Vielleicht sind die wenigen anderen Kunden zu dieser frühen Stunde einfach noch zu schläfrig.
Der Bärtige zieht ein paar grellorangefarbene Turnschuhe aus dem Regal. Sie passen perfekt. Er zahlt 53 Dollar mit seiner Kreditkarte und macht eine erfreuliche Entdeckung: Dank seiner neuen Schuhe kann er auf einmal viel höher springen als zuvor.
Claus Nehmzow nimmt die Finger von der Tastatur seines IBM-Thinkpads und trinkt einen Schluck Cappuccino. Sofort hört der Turnschuhkäufer auf mit dem Herumgehopse. "Absolutely mind-boggling", sagt Nehmzow. Echt umwerfend.
Nehmzow lebt in London und ist dort Partner bei der Unternehmensberatung PA Consulting. Der 48-Jährige wirkt nicht so, als habe er jemals ernsthaft erwogen, sich einen Vollbart stehen zu lassen oder einen Schlapphut zu tragen. Solche Posen überlässt er seinem zweiten Ich, einem Avatar namens German Guru. Nehmzow hat sich diese virtuelle Figur nach eigenen Vorstellungen zusammengesetzt, um mit ihr die Online-Community Second Life zu durchstreifen.
2,4 Millionen Bewohner hat diese dreidimensionale virtuelle Welt inzwischen gewonnen, momentanes Wachstum: jede Woche kommen rund 100.000 neue Mitglieder dazu. Nehmzow selbst wurde von seinem Sohn mit dem Second-Life-Virus infiziert.
Second Life ähnelt einer dreidimensionalen Version des Internets: Statt einer Homepage können sich die Nutzer dort ein Haus errichten oder eine ganze Insel anlegen. Statt nur mit einer E-Mail-Adresse oder einem User-Namen ist jeder von ihnen mit einer virtuellen Figur vertreten, die sich per Tastatur steuern lässt.
Second Life macht Spaß, vor allem aber entdecken Unternehmen die Adresse als Werbemedium. Es gibt dort bereits einen Modeladen der T-Shirt-Marke American Apparel, ein virtuelles Sheraton-Hotel, und Ende September eröffnete die Adidas-Boutique.
Die Präsenz des Dax-Konzerns bei Second Life liefert das jüngste Beispiel für einen grundlegenden Wandel in der Marketingstrategie von Adidas. "Die Mediennutzung unserer Kernzielgruppe verändert sich radikal, dem müssen wir uns anpassen", sagt Uli Becker. Er war bis vor wenigen Monaten Markenchef von Adidas, heute verantwortet er das Marketing des zugekauften US-Sportartikelherstellers Reebok.
Irgendwann im Jahr 2004 erkannte Becker: Nicht mehr das Fernsehen ist für turnschuhverrückte Teenager (wie Nehmzows Sohn) oder trendbewusste Gutverdiener (wie Nehmzow selbst) das wichtigste Medium, sondern das Internet.