Work-Life-Balance

Ausweitung der Arbeitszone

04.06.2007
Von Klaus Werle

Wer also unter den Vielarbeitern eine Reihe ausgebrannter, verbitterter Gestalten sucht, wird enttäuscht werden. "Ich arbeite gern unter Zeitdruck", sagt Gregor von Bonin, "viele Bälle gleichzeitig in der Luft halten, Telefonate, Verträge, Mails, das bringt das gute Gefühl, etwas voranzutreiben." Extremjobber fühlen sich nicht als Opfer, sie lieben die hohe Drehzahl.

Kann man das lernen? Wie packen Vielarbeiter ihr enormes Pensum? Wie reagieren sie auf StressStress, wie bleiben sie gesund? Alles zu Stress auf CIO.de

Die Extremjobber stehen an der Spitze der Entwicklung hin zu einer Welt, die niemals schläft: always on, immer auf Abruf. Normalerwerbsbiografie und Acht-Stunden-Tag - das sind Begriffe, so aktuell wie der Opel Kapitän. Die Ausweitung der Arbeitszone mit ihren zahllosen Spielarten wie Projektarbeit, Home Office und Vertrauensarbeitszeit hat alle Bereiche erfasst, vom Manager bis zum Arbeiter.

"Seit Beginn der 90er erleben wir die flächendeckende Flexibilisierung der Arbeitszeit", sagt Thomas Haipeter vom Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung haben heute drei von vier deutschen Firmen flexible Arbeitszeitmodelle. Wo noch die gute alte Stechuhr steht, stempeln Mitarbeiter oft pünktlich um 17 Uhr aus - und gehen schnurstracks zurück an die Arbeit, ohne jedoch wieder einzustempeln. Atmende Unternehmen, atemlose Angestellte.

Trend zum entgrenzten Arbeiten

"Die Grenze zwischen Beruf und Privatleben verwischt zusehends", sagt der Industriesoziologe Gerd Günter Voß. Der Professor an der TU Chemnitz spricht vom "entgrenzten Arbeiter, der sich stärker als Unternehmer fühlt, mehr Verantwortung übernimmt und deshalb mehr und arhythmischer arbeitet".

Prinzipiell greift diese "Follow the sun"-Arbeitsweise auf alle Ebenen durch. Weil aber große Teile der Produktion standardisiert sind, werden komplexe Interaktionen wie Verhandlungen und Analysen zum eigentlichen Erfolgstreiber. Die Konsequenz: gering Qualifizierte arbeiten weniger, hoch Qualifizierte immer mehr.

Eckhard Nagel (46) folgt einer simplen Regel: "Nicht immer grübeln, was ich noch erreichen will. Ich lebe im Hier und Jetzt. Was ich tue, mache ich hundertprozentig." Allerdings tut Nagel, athletisch, besonnen, blitzweißes Lächeln, eine ganze Menge: Er ist Direktor des von ihm initiierten Instituts für Medizin-Management der Uni Bayreuth, Leiter des Chirurgischen Zentrums am Klinikum Augsburg, Chefarzt der Transplantationschirurgie, Mitglied im Ethikrat und im Vorstand des Evangelischen Kirchentages sowie Vorsitzender der Rudolf-Pichlmayr-Stiftung, um nur das Wichtigste zu nennen. Ach ja: verheiratet, drei Töchter, Doppelpromotion in Medizin und Philosophie.

Bei der Visite auf der Transplantationsstation hat der Arzt, obwohl unter Zeitdruck, für jeden Patienten ein paar Minuten, und in denen gibt er jedem das Gefühl, ganz für ihn da zu sein. Kleine Scherze, gute Ratschläge ("Mehr trinken, keine Semmel"), Verband wechseln.

Konzentration ist Nagels Stärke, das intensive Nutzen des Augenblicks. Nagel steht um sechs auf ("Ich brauche nur fünf Stunden Schlaf"), macht Fitnessübungen und duscht im Freien, im Sommer und Winter. In der Woche arbeitet er bis 24 Uhr oder länger, aber die Wochenenden hält er konsequent frei für die Familie, nur das Transplantations-Notfallhandy darf ihn stören. "Auch wenn ich dafür die Nacht schon mal durcharbeiten muss."

Aber was heißt schon "arbeiten"? Wie die meisten Extremjobber muss Nagel lange nachdenken, wenn man ihn fragt, wie viele Stunden er täglich arbeitet: "Ich erlebe meine Tätigkeit nicht als Arbeit, sondern als Geschenk", sagt der gläubige Christ, der zweimal täglich meditiert, "wenn ich viel bewegen kann, möchte ich auch etwas zurückgeben."

Gesundheit ist abhängig von Hierarchieposition

Das Geheimrezept des Vielarbeitens, so scheint es, ist so schlicht wie effektiv: Arbeit empfinden Extremjobber nicht als Anstrengung, sondern als Privileg. Das hat damit zu tun, dass sie ihr Pensum frei einteilen, selbstbestimmt arbeiten können. "Wer den Machtstab des Agierens in der Hand hält, kann besser mit Druck umgehen und mehr leisten als jemand, der nur Befehle ausführt", sagt Zeitmanagement-Guru Lothar Seiwert. Studien unter Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes in Großbritannien zeigen: Die Position in einer Hierarchie beeinflusst sogar Gesundheit und Lebenserwartung stark. Entscheider leben länger.

Natürlich bewegen sich gerade Manager oder Anwälte nicht im anforderungsfreien Raum. Per Mail, Handy und Blackberry prasseln täglich Hunderte von Informationen auf sie ein, ständig muss irgendetwas entschieden werden. Aber wie sie reagieren, bleibt ihnen allein überlassen.

Hubertus Meinecke (36) etwa, Partner bei der Boston Consulting Group, hat gerade seinen Zehn-Uhr-Termin abgesagt. Gestern um Mitternacht rief ein Kunde an, dringend müsse man noch einmal die Präsentation für den Vorstand durchgehen: "Acht Uhr morgen früh passt Ihnen doch?" Kein Problem für Meinecke, in dessen Büro im Hamburger Chile-Haus sich Pokale stapeln, der Marathon läuft ("Jedes Jahr einen, plus einen längeren Lauf") und Sport liebt und deshalb auch überraschende Herausforderungen. "Ich fände es schrecklich, morgens genau zu wissen, wie der Tag abläuft."

Neulich, auf der Fahrt zu den Schwiegereltern, fiel ihm auf, dass er an diesem Tag noch nicht gelaufen war. Noch im Zug zog er Sportklamotten über, gab dem Taxifahrer am Bahnhof seine Aktentasche und die Adresse der Schwiegereltern - und rannte selbst zu Fuß hin.

Der Berater, mit klobiger Läuferuhr unterm Maßanzug, hat den Ehrgeiz, in den 12 bis 14 täglichen Arbeitsstunden möglichst viel zu erledigen. Auf seinem Tisch stapeln sich 100 Grußkarten für Kunden, Arbeit für mindestens einen halben Tag. "Ich will das in zwei Stunden schaffen, das spornt mich an."

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